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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

370 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Huber, Gerhard

Titel/Untertitel:

Eidos und Existenz. Umrisse einer Philosophie der Gegenwärtigkeit.

Verlag:

Basel: Schwabe 1995. 406 S. gr.8°. Lw. DM 82,­. ISBN 3-7965-0984-3.

Rezensent:

Hermann Timm

Wie schon im dickleibigen "System der Philosophie" von Hermann Schmitz (Emeritus für Philosophie in Kiel) geschehen, legt nun auch Gerhard Huber, emeritierter Ordinarius für Philosophie und Pädagogik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich einen Gesamtentwurf des Denkens vor, der um den begrifflichen Fokus namens Gegenwart kreist. Gegenwärtigkeit steht für den Zusammenhang, das "und" zwischen "Eidos" ­ Kürzel für die okular schematisierte Wesensmetaphysik platonisch-plotinischer Provenienz ­ und "Existenz", Leitwort für die Phänomenologie der Faktizität, welche von Husserl und Heidegger auf den Weg gebracht wurde.

Anders als bei der existenzphilosophischen Anthropozentrik wird allerdings kosmologisch eingesetzt mit der "Gegenwärtigkeit der Welt", verstanden als Grundphänomen der Zugewandtheit von Etwas für Jemanden. Ihre Präsenz korreliert der zweiten Novität des 20. Jh.s: der ontologisch generalisierten Sprachlichkeit, und zwar über die Aktionsform des "Gegenwärtigmachens". Präsenz wird präsentiert durch verbale Expression, sei es mündlich oder schriftlich. "Vergegenwärtigen meint: Daseiendes in die Ausdrücklichkeit eines eigens Sichmanifestierens heben, es in die ausdrückliche Zugewandtheit bringen. Sprachliches Vergegenwärtigen erwirkt die Ausdrücklichkeit der Zugewandtheit von Gegenwärtigem" (35).

Im Sprachlichwerden findet die Weltzugewandtheit zur responsorischen Vollpräsenz. Diesem einleitend entwickelten Grundgedanken schließt sich an die Theorie der Erkenntnis als "Gegenwärtighaben", die Theorie der Wahrheit als erfüllte "Selbstgegenwart", die Theorie der Zeit als "Gegenwartsgeschehen" in der Koinzidenz von Erinnerung (Vergangenheit) und Erwartung (Zukunft) und die Theorie des Handelns als "Vollzug" des welthaften Gegenwartssinn durch den Menschen für den Menschen.

Der Vf. rechnet sich selbst der phänomenologischen Denkbewegung zu, trägt aber der Kritik an der vermeinten Reinheit ihrer Sachbeschreibung dadurch Rechnung, daß er die "dialektisch" genannte Beziehungshaftigkeit zum eigenen Bestandteil seiner Vorgehensweise macht. Das Methodenkapitel gibt darüber Auskunft (157-176). "Die phänomenologisch intendierte Unmittelbarkeit des Sichzeigens der Sache selbst erweist sich unmittelbar als eine durch die Weise des Zugehens auf das Sichzeigende schon vermittelte, somit als Gegenteil ihrer selbst: als mittelbare Unmittelbarkeit" (159). Semantisch wäre diese präsenzinterne Hin-und-Her-Bewegung im "Gegenwarten" reziprok einander frontierender Situationspartner unterzubringen gewesen, im szenographischen Tête-à-tête also, dem die deutsche "Gegenwart" etymologisch entstammt.

Aus der materialen, regionalontologisch ausdifferenzierten Durchführung des Systems eigens hervorgehoben zu werden, verdient der Passus über "Das Absolute" (303-348). Er enthält eine Religionsphilosophie in nuce, was bei heutigen Fachphilosophen ja keine Selbstverständlichkeit mehr ist. An die Tradition der archäonomischen wie teleonomischen Gottesbeweise anschließend, wird die Fragmentarität menschlicher Sinnvermeinung als existentielles Motiv des Transzendenzgedankens ausgemacht. Er kann naturgemäß nur limitativ als das andere der Vernunft avisiert werden. Alle positiven Bestimmungen verfallen der Kritik. "Die Erfahrung des Denkens führt zur Gegenwärtigkeit des Absoluten, sofern das Denken an der Grenze der Transzendenz sich selbst als Denken aufhebt" (341). Die menschlicherseits negativ gehaltene Limesaktion göttlicherseits als Moment der Selbstaffirmierung des Absoluten zu begreifen, wie es spekulativer Philosophietradition entspräche, lehnt der Vf. ab. Er beläßt es beim Absolvieren der Vernunft im punktuellen Durchsichtigwerden der Totalitätspräsentation. Das entspricht seinem Motto, dem anonym tradierten "ou polla däla, all arkei". Vieles ist nicht deutlich, aber es genügt.

Was man sich deutlicher ausgeführt wünschte, wäre die Raumbedeutung von Gegenwärtigkeit. Sie steht zwar, da das landläufige Vorverständnis von Gegenwart qua Lokalpräsenz, Anwesenheit, Zugegensein in Hör- und Sichtweite es nahelegt, voran (18), findet aber in der Folge keine der breit elaborierten Zeitlichkeit vergleichbare Explikation. Die Choriologie tritt gegenüber der Chronologie auffällig zurück. Man erfährt viel über das Eidos des existentiellen Kairos, vergleichsweise wenig über das des Topos. Die Lokalisation aber, die Verortung im Hiersein, ist ein gleichwesentlicher Bestimmungsgrund für den Vollsinn jener Gegenwart, der in der Topik christlicher Geistreligion Realpräsenz heißt.