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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

366–368

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Berner, Christian

Titel/Untertitel:

La Philosophie de Schleiermacher. «Herméneutique», «Dialectique», «Éthique».

Verlag:

Paris: Cerf 1995. 281 S. gr.8° = Passages. Kart. fFr 170.­. ISBN 2-204-05152-7.

Rezensent:

Kurt Nowak

Während des 19. Jh.s und im ersten Drittel des 20. Jh.s war Schleiermacher im protestantischen Frankreich, in der frankophonen Schweiz und ­ dort allerdings weniger ­ im französischsprachigen Kanada stets ein wichtiger Gesprächspartner. Der Einfluß Karl Barths setzte dieser Rezeption zunächst ein Ende. In den letzten Jahren verstärken sich jedoch die Zeichen für die Neuentdeckung Schleiermachers auch in der Welt der Frankophonie. Das neubelebte Interesse hat nicht allein theologische Gründe; es steht auch im Kontext der Arbeit an der Geschichte der Frühromantik und des deutschen Idealismus.

Bei der Studie von Christian Berner handelt es sich um eine stark bearbeitete Dissertation, die von Alain Renaut betreut wurde. B., der Philosoph, findet es seltsam, wie die Philosophen bisher mit Schleiermacher umgingen: «on ne retient en matière de philosophie que deux oeuvres: les Discours sur la religion de 1799 et la Doctrine de la foi de 1822, ouvrages d’abord théologiques» (9). Was Schleiermacher als «son ¦uvre philosophique» ansah, sei von den Philosophen liegengelassen worden. Seltsam auch, daß die "Hermeneutik", die kein eigentlich philosophisches Werk sei, von den Philosophen in einer Manier gelesen wurde, die Schleiermacher zum "Philosophen der Hermeneutik" machte. Die Hermeneutik, hält B. fest, sei in erster Linie eine Methode. Was Schleiermacher als Philosoph zu sagen habe, fände sich vor allem in der "Ethik" und in der "Dialektik". Da die "Hermeneutik" gleichwohl philosophisch relevant sei, könne sie nicht außer Betracht bleiben. Folgerichtig lautet die Präzisierung des Titels der Untersuchung «La philosophie de Schleiermacher»: «Herméneutique», «Dialectique», «Éthique».

Gegliedert ist sie in ungefähr vier gleich lange Kapitel. Kapitel I und II («Herméneutique générale et herméneutique universelle»; «Herméneutique et discours individuel») beschäftigen sich in einem ersten Schritt mit der Geschichte der Hermeneutik seit Dilthey (Kap. I) und bieten in einem zweiten Schritt B.s Deutung des Schleiermacherschen Hermeneutikentwurfs dar. In Kapitel III («Dialectique et critique») entwickelt der Vf. die Hauptmomente der "Dialektik", in Kap. IV diejenigen der "Ethik". Eine Zusammenfassung, der Nachweis der benutzten Schleiermacherschriften, der «Ouvrages collectifs» und ein Personenregister runden die Studie ab. Leider hat der Autor die in den Fußnoten zitierte Literatur nicht eigens in einem Literaturverzeichnis zusammengefaßt.

Im Sinne einer «précaution» macht der Vf. auf den provisorischen Zustand jener Schleiermacher-Texte aufmerksam, die nicht zu Lebzeiten des Autors im Druck erschienen. Daraus erwachsen Probleme sowohl für die Edition wie für die Interpretation. Der iterative Status der in Vorlesungsmanuskripten, Notizen, Nachschriften überlieferten Texte habe die Interpreten, kritisiert der Vf., häufig dazu verführt, die systematische Konsistenz von Schleiermachers Denken unterzubewerten. Seiner Überzeugung nach ist es möglich, in den fragmentierten Textbeständen die «systématicité» von Schleiermachers Philosophie zu erkennen und den Versuch zu unternehmen, sie zu begreifen (45). Dem Rez. scheint, daß dieser Tadel ein wenig ins Leere geht. Allzuoft erfolgten in der Forschung Zugriffe ohne Rücksicht auf das historisch-genetische Moment. Insofern verlängert der Vf. mit seinem Plädoyer für die systematische Konsistenz der Texte lediglich einen bestimmten Interpretationstyp.

Neu und interessant (wenn vielleicht auch nicht durchweg haltbar) ist seine die "Hermeneutik", die "Dialektik" und die "Ethik" gleichermaßen umgreifende These. Deren Ausgangspunkt ist eine der «présuppositions fondamentales que nous retrouvons dans toutes les parties du systéme»: die Identität von langage und pensée. «Cette dernière marque tant l’éthique que l’herméneutique et la dialectique et régit par conséquant leur rapports» (83).

Hinter diesen knappen Feststellungen steht eine Kommunikationstheorie des menschlichen Daseins. Im "dialektischen Konflikt" (hermeneutisch gesehen das Faktum des Nichtverstehens, dialektisch betrachtet die Unerschwinglichkeit des Denkgrundes) sei ein ethischer Entwurf enthalten. "Hermeneutik" und "Dialektik" verwiesen über ihre «simple exigence théorique» hinaus auf eine kommunikative Praxis, vom Vf. als eine «certaine ÊÚÞÓËÛȗ» charakterisiert, als eine «prudence de la compréhension» (267). Die ethische Schlußfolgerung lautet: «Comprendre n’est pas ce qui est, c’est aussi la dimension dans laquelle individu et communauté s’acomplissent» (268). Schleiermachers Hermeneutik sei geeignet, eine entscheidende Rolle in der Kommunikationsethik und bei der Begründung moralischer Identität zu spielen. Die Sprache als fundamentale Struktur des Bewußtseins erwirkte vermöge des Sprachakts das Handeln der Vernunft auf die Natur und die Realisierung des Geistes und schaffe insofern die «union du théorique et du pratique». Entscheidend für B. ist die Wahrnehmung von Schleiermachers «catégorie centrale»: des "Konflikts". Sie hebe sein Denken von den Prätentionen des Absoluten ab. «La recherche du savoir est éthique car elle m’attache à l’autre que je dois reconnaître dans son identité morale, dans son irréductible singularité», ein Prozeß der auch in umgekehrter Richtung ­ vom anderen her ­ zu deuten sei (ebd.).

B.s Dissertation nimmt im Diskurs der Hermeneutik einen originellen Platz ein. Ob das Element "Konflikt" bzw. das dialogische Moment, aus dem der kommunikationsethische Entwurf hervorgeht, durch den Vf. eine Überbelichtung erfährt oder nicht, wird in der Forschung weiter zu erörtern sein. Die Studie oszilliert zwischen Schleiermacher-Exegese und eigenständigem Entwurf. Hinzugefügt sei, daß der Vf. auch als französischer Übersetzer von Schriften Schleiermachers die Forschung erfreulich vorantreibt.