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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

364 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Heieck, Andreas

Titel/Untertitel:

Selbstversöhnung. Eine Untersuchung zur religiösen Unruhe im Denken von André Gide.

Verlag:

St. Ingbert: Röhrig 1996. 476 S. 8° = Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 51. Kart. DM 68,­. ISBN 3-86110-093-2.

Rezensent:

Klaus Stiebert

In der Reihe "Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft" werden vorwiegend Untersuchungen zur Soziologie, Methodologie und Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literatur seit dem 16. Jh. veröffentlicht. Der Blick auf die Literatur der europäischen Nachbarn bildet die Ausnahme. Um so erfreulicher ist die Publikation der Untersuchung des Theologen Andreas Heieck zum Denken eines der bedeutendsten Autoren des 20. Jh.s aus Frankreich. Die Arbeit verfolgt das Ziel, dem Verhältnis von Religion und Biografie am Beispiel der Entwicklung André Gides nachzugehen.

Der Autor versucht, sich "mit Hilfe der Psychohistorie im Sinn einer psychologisch motivierten und geprägten und zugleich theologisch relevanten Methodik dem religiösen Denken André Gides zu nähern" (13). Die Arbeit bezieht sich also nicht so sehr im literaturwissenschaftlichen Verständnis auf das erzählerische und dramatische Werk des Literaturnobelpreisträgers von 1947, sondern auf die reichhaltigen Selbstaussagen (Tagebücher und autobiografisches Material) des Ringens um Glaubensfragen im Denken Gides. Die theologische und philosophische Konzeption der "religiösen Unruhe" wird erörtert, die Frage seines Gottesbegriffs untersucht und auf die Bedeutung für die Selbstfindung in der jeweiligen Lebenssituation angewendet. Der Vf. kennt und referiert den Forschungsstand, dem Band ist eine Literaturliste in Hinblick auf Thema und Umfeld (vorwiegend deutscher und französischer Quellen) nachgestellt.

H. beschreibt die literarischen Wurzeln für Gides Entwicklung: Die Bedeutung Montaignes und Pascals, die der fin-de-siècle-Literatur des Symbolismus und die des außerordentlich bedeutsamen Renouveau catholique (Peguy, Green, Claudel, Jammes u. a.). Einerseits wird Goethe "als Dichter der Befreiung und Lebensfülle" zurecht für wesentlich gehalten, andererseits die große Bedeutung von "Dostojewskis Unruhe" herausgearbeitet. Der viel diskutierte Einfluß Nietzsches ist wohl tatsächlich als "überzogen" dargestellt zu bewerten. Umfangreich wird Gestalt und Funktion der religiösen Unruhe abgehandelt, die "als reformatorisches Prinzip" eines neuen Wahrheitsbegriffs interpretiert wird. Gides Unruhe sei geprägt "von der Polarität zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit" (90), bedinge geradezu seine Literatur des Widerspruchs. Selbstreflexion und Selbstintegration erscheinen als die zentralen Kategorien auf dem Wege zur "Selbstfindung durch Aufrichtigkeit" mit ihrem Konfliktpotential.

Dabei spielt sein Ringen "um authentische Gotteswirklichkeit" (IV. Kapitel) eine wesentliche Rolle: "Alle Entwicklung muß in Gott münden" (Gide, Tagebücher II, 415). Das Konzept des "theistischen Atheismus" und des "Egotismus" wird verbunden mit der Frage nach dem Wesen des Bösen, der Sünde, eine im Werk immer wieder auftretende und gestaltete Thematik, und dem Ringen um ein authentisches Christentum (Rolle des Elternhauses). Der Autor beschreibt Gides Erfahrungen mit dem traditionellen Christentum und untersucht des Schriftstellers Bibelverständnis und Christus-Rezeption, auch die einige Zeit währende und damit in Zusammenhang stehende Beschäftigung mit dem Kommunismus.

"Der Katholizismus ist unzulässig. Der Protestantismus ist unerträglich. Und ich fühle mich zutiefst christlich" (Gide, Tagebücher I, 450). Das kann als Summa seines Denkens beschrieben werden. Der aus hugenottischer Tradition kommende Gide lehnt, trotz der eifrigen Bemühungen Paul Claudels um ihn, die Konversion aber stets ab. H. resümiert, daß André Gides Konzept der religiösen Unruhe für ihn wohl zur Selbstversöhnung geführt habe, daß es aber, versuche man dieses auf andere zu übertragen, an eine den Menschen völlig überfordernde Grenze stoße.