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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

345–347

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Mensching, Günther

Titel/Untertitel:

Thomas von Aquin.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York: Campus 1995. 178 S. 8°= Reihe Campus Einführung, 1087. DM 24,80. ISBN 3-593-35261-3.

Rezensent:

Christian Schröer

Im Unterschied zu bisherigen Einführungen möchte M. in diesem Thomas-Bändchen nicht zeitlose Wahrheiten feiern, sondern "aus der Perspektive der entwickeltesten Spekulation der neueren Philosophie, in der das Bewußtsein als Resultat seiner eigenen Geschichte reflektiert ist" ­ gemeint ist Hegel ­, zentrale Motive des thomasischen Denkens diskutieren, "die so erst freigeben, was in ihnen angelegt ist" (12 f.). Freizulegen sei insbesondere, daß die thomasische Synthese des Denkens seiner Zeit eine "vielfältige Gebrochenheit" aufweise, wobei deren "unaufgelöste Aporien die philosophische Moderne antizipieren" (Einband). "Die leitende Idee der folgenden Darstellung ist also nicht die Harmonie, sondern die Spannung der Momente im Thomasischen Denken" (16).

Die Darstellung orientiert sich dabei deutlich an den Aporien, die Kant und Hegel zur Frage der Möglichkeit einer Metaphysik überhaupt formuliert haben. So diskutiert M. im Blick auf Thomas, nach einer kurzen historischen Skizze (Kap.1), vor allem das Verhältnis von rationaler Wissenschaft und Theologie (Kap.2 u. 4), das Verhältnis vom unbedingten Einen und dem bedingten Vielen und von Begriff und Realität (Kap.2-5), ferner das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem (Kap.6) und von Vernunft und Herrschaft (Kap.7).

Zentraler Angelpunkt für M.s Darstellung ist die "Antinomie zwischen kritischer Erkenntnistheorie und affirmativer Metaphysik", die das thomasische Denken durchziehe (17; vgl. 68f.): Da nach Thomas alle Erkenntnis erst durch die vermittelnde Leistung des tätigen Verstandes zustandekomme, erscheine aller Zugang zur Welt folglich nicht anders als im modus intelligendi und damit als Produkt menschlicher Verstandestätigkeit; zugleich handle Thomas aber "affirmativ von den Bestimmungen des Seienden an sich" (70), "als wären es die Gedanken Gottes" (91; vgl. 80); so sei auch "der ordo naturae, der sich in dem viel bewunderten Stufenbau des Seins gliedert,... deshalb in sich brüchig" (17).

So bleibe für Thomas "dafür, daß dieses Sein kein bloßes Gedankending sei,... keine andere Garantie als die von Gott gewirkte Intelligibilität [sc. des geschöpflichen Seienden], die im Erkenntnisakt vorausgesetzt ist" (76), was zu einem weiteren Dilemma führe: Zum einen scheint Thomas noch der neuplatonischen Konzeption zu folgen, wonach die Intelligibilität der Seienden durch den Hervorgang des Vielen aus dem göttlichen Einen verfolgt und dadurch gesichert werden könne ­ was nach M. schon nicht ohne Aporie gelingen konnte (49); zum andern sei nach Thomas dieser höchste Grund allen bestimmten Seins, d. h. das Wesen Gottes, für das diskursive Denken des Menschen gerade unerkennbar (17). Wird schließlich Gott als der Garant der Objektivität aller Erkenntis allein im Glauben angenommen, gewinne der Glaube eine regulative Funktion für die Möglichkeit der Metaphysik (Kap. 4), wobei dann freilich dieser Glaube nicht selbst wiederum durch eine rationale Metaphysik begründet werden könne. Daher sieht M. in der thomasischen Versöhnung von Philosophie und Theologie letztlich "eine fragile Synthesis, welche ­ rückblickend betrachtet ­ den Gegensatz ihrer Elemente nicht beseitigt, sondern verschärft hat" (32). Dasselbe Bild begegnet in der praktischen Philosophie: Hier stehe die subjektive praktische Erkenntnismöglichkeit des Handelnden einer als lex aeterna gedachten objektiven Ordnung gegenüber, welche jedoch selbst "für die vollendete menschliche Erkenntnis unerreichbar" sei; jede Berufung auf diese Objektivität führe daher zu einem "Widerspruch zwischen Herrschaft und Vernunft, der die Thomasische Gesellschaftsordnung durchzieht" (143 f.). Wie im theoretischen Kontext werden somit rational nur die Bedingungen vernünftigen Handelns erreicht, nicht aber eine zeitlos objektive Ordnung des Rechts.

So berechtigt und anregend viele Passagen des Buches zweifellos sind, so fragt sich doch, warum M. methodisch den zweiten Schritt vor den ersten stellt (vgl. 18 f.), d. h. warum er das thomasische Denken nicht zunächst aus der primären Intention der mittelalterlichen Texte, sondern sogleich durch die Brille der neuzeitlichen Fragestellungen vorstellt, was auf den mit Thomas vertrauten Leser immer wieder provozierend wirkt und zum Widerspruch Anlaß gibt. Näherhin stellt sich dies so dar: Da M. antithetisch zwischen kritischer und nicht-kritischer Erkenntnis unterscheidet (vgl. 126), scheint es zwischen dem (Ideen-)Realismus des Neuplatonismus und dem Nominalismus eine mittlere Position gar nicht geben zu können, die nicht aporetisch wäre. Dabei sieht M. die historische Wende zur kritischen Erkenntnis in der "nominalistischen Wendung" des 12. Jh.s, vornehmlich im Werk Abaelards (24-26, 62 f., 96). So beschreibt M. auch das, was man gewöhnlich bei Thomas kritischen Realismus nennt, wegen des kritischen Elements bereits als einen impliziten Nominalismus (49); freilich fügt er hinzu, daß Thomas gerade dessen "positivistische und agnostizistische Konsequenzen... zu vermeiden sucht" (59). Das als erkenntniskritisch gedeutete Axiom, daß alles, was erkannt werde, nicht anders als nach der spezifischen Weise des Erkennenden erkannt werde (vgl. 56), hält M. für eine Anknüpfung an Abaelard (55 f.); tatsächlich folgt Thomas hier einer schon von Boethius vertretenen Tradition (vgl. Cons.V, pr.4) und zitiert hierfür gerade den neuplatonischen Liber de causis (vgl. I-II 5, 5c). Windschief erscheint ferner etwa die These, daß Thomas das erste praktische Gebot aus der Transzendentalienlehre und dem Widerspruchsprinzip deduziere ­ wonach die Ethik des Thomas wohl dem naturalistischen Fehlschluß erliegen müßte. Thomas vertritt auch nicht im Fall der ersten praktischen Prinzipien die Augustinische Illuminationslehre (149) und spricht, wenn er nicht gerade Augustinus zitiert, auch nicht von irradiatio, sondern genau wie bei den Verstandesprinzipien von impressio (vgl. I-II 91,2c).

Angesichts des genannten Inhalts und der Methode fragt sich schließlich, an wen das Buch adressiert ist. Da es den Leser gar nicht mit den primären Intentionen der Begriffe und Texte des Thomas vertraut machen will, sondern Grundkenntnisse dieses Denkens sowie des neuzeitlichen Kontextes der an Thomas herangetragenen Fragestellungen voraussetzt, eignet es sich schwerlich als eine erste Einführung in das Denken des Thomas. Dennoch ist es eine Einführung: eine Einführung in das Problem der Möglichkeit von Metaphysik bei Thomas, weshalb auch die Lektüre durchaus den Wunsch nach einer gründlichere Diskussion der aufgeworfenen Fragen anhand der Texte und der einschlägigen Thomasliteratur weckt.