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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

341–344

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Origeniana Sexta. Origène et la Bible/Origen and the Bible. Actes du Colloquium Origenianum Sextum, Chantilly, 30 août ­ 2 septembre 1993. éd. par Gilles Dorival et Alain Le Boulluec avec la collaboration de Monique Alexandre, Michel Fédou, Aline Pourkier, Joseph Wolinski.

Verlag:

Leuven: University Press 1995. XII, 865 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium CXVIII. Kart. BEF 390,­. ISBN 90-6186-718-5.

Rezensent:

Wolfgang Ullmann

Was hier vorgelegt wird, sind die gesammelten Beiträge des 6. Origenes-Kongresses, der vom 30. August bis zum 3. September 1993 im Kulturzentrum Fontaines de Chantilly bei Paris stattgefunden hat. Das vor allem durch die französische Patristik nach 1950 (de Lubac, Daniélou, Crouzel, Harl) neu geweckte Interesse an Origenes ließ es lohnend erscheinen, einen internationalen Meinungsaustausch der Sachkenner zu organisieren, und so kam es seit dem ersten Treffen in Montserrat 1973 zu einer Folge von Kongressen in Bari (1977), Manchester (1981), Innsbruck (1985) und Boston (1989), unter denen Chantilly gewiß nicht der letzte gewesen sein wird.

Kongresse von Spezialisten für Spezialisten! Also obliegt es vor allem dem Rez., alles dafür zu tun, daß auch Nichtspezialisten sich für eine Sache interessieren, die zu wichtig ist, als daß sie dem "Kastalien" und den Glasperlenspielen der altphilologischen und kirchenhistorischen Experten vorbehalten bleiben dürfte. Das ist schon deswegen unerläßlich, weil der Anteil der deutschen Forschung an der Origenes-Diskussion, deren Schwerpunkte wie ihr Ursprung vorwiegend im französischen und englischen Sprachraum liegen, sich auf ganze 7 Beiträge (neben 5 italienischen und einem spanischen) von 60 der Chantilly-Referate beschränkt.

Ich will diese im Rahmen einer kurzen Rezension eigentlich unlösbare Aufgabe so angehen, daß ich zunächst einen Überblick über die Hauptthemen des Chantilly-Kongresses und die ihnen zugeordneten Beiträge gebe, dann erläutere, worin ich die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion sehe und abschließend die Punkte kenntlich mache, an denen meines Erachtens ein Bedarf an weiterer Forschung und Diskussion besteht.

Der Kongreß, dessen Hauptthema lautete "Origenes und die Bibel", hat seine Arbeit in 8 Unterthemen gegliedert.

1. Die Situation der Hermeneutik des Origenes: Hier ging es um den historischen Kontext, also die Einflüsse aus antiker Philosophie und Philologie, rabbinischer und esoterisch-jüdischer Exegese, die auf die exegetische Arbeit des Origenes ebenso eingewirkt haben wie seine christlichen Vorläufer. 12 Beiträge: Heine; Torjesen; Dubois; Pasquier; Stroumsa; Neeb;

Wilken; van den Hoek; Méhat; Osborn; Junod; Perrone; sieben Beiträge englisch, fünf französisch.

2. Origenes und der biblische Text: vier Beiträge, die sich alle mit den Fragen der Hexapla-Überlieferung befassen: Munnich; Norton; Jay; Guinot; drei französisch, einer englisch.

3. Die Argumentation auf der Basis der Schrift:. Wie die hier einschlägigen 6 Beiträge von Bertrand, Fernando, Maritano, O’Cleirig, Sfameni, Studer zeigen, wird die Art und Weise behandelt, wie Origenes in der Auseinandersetzung mit anderen oder bei der Behandlung liturgischer Fragen auf der Basis der Bibel argumentiert. Zwei Beiträge sind englisch, zwei italienisch, einer französisch und einer deutsch.

4. Exegese und Theologie: sieben Beiträge von Benjamins, Crouzel, Fédou, Kannengiesser, Lies, O’Leary und Rigolot; vier Beiträge französisch, einer englisch, zwei deutsch.

5. Origenes als Exeget: Da es sich hier um die zentrale Thematik des Kongresses handelt, ist sie nach biblischen Büchern nochmals unterteilt worden. 5A umfaßt auffallender Weise das gesamte Alte Testament und enthält nur zwei französische Beiträge von Duval und Pesty. Auf diese sonderbare Asymmetrie werden wir zurückkommen. 5B enthält 6 Beiträge von Bienert, Gögler, Kuyama, McGuckin, Mikoda und Wolinski über den Kommentar des Origenes zum Johannesevangelium; zwei davon deutsch, drei englisch, einer französisch. 5C ist der Paulusexegese des Origenes gewidmet und enthält vier Beiträge von Bammel, Heither, Roukema und Bostock; zwei davon englisch, einer deutsch, einer französisch. 5D schließlich enthält je einen Beitrag von E. Bammel zur Passionsgeschichte, von Bright zu Origenes’ Hebräerbriefauslegung und von Covolo über Vers 9 aus dem 2. Kapitel des ersten Petrusbriefes; der erste Beitrag deutsch, der zweite englisch, der dritte italienisch.

Die letzten drei Unterthemen sind den Nachwirkungen der Hermeneutik des Origenes gewidmet.

6. behandelt diese bei den griechischen Vätern mit 6 Beiträgen von Beatrice, Gould, Meis, Pazzini, Daley und Blowers; drei davon englisch, zwei französisch, einer spanisch.

7. tut das gleiche für den lateinischen Westen mit wiederum sechs Beiträgen von Berchman, Bastit, Doignon, Milhau, Grossi und Vannier; ein Beitrag englisch, vier Beiträge französisch, einer italienisch.

8. schließlich behandelt die Nachwirkungen des Origenes bei Erasmus, Luther, Beza, Patrologen des 17. Jh.s und in der gegenwärtigen Debatte. Die vier Autoren sind Dechow, Roussel, Cerbu und Theobald; sie schreiben französisch ­ bis auf den ersten (englisch).

Was kann von diesem Großaufgebot an patristischer Gelehrsamkeit als Gewinn für den Durchschnitt historischen und theologischen Wissens gebucht werden? Zuallererst, daß das Werk des Origenes, auch wenn es weithin nur fragmentarisch oder in Übersetzungen erhalten ist, das bisher unübertroffene Beispiel einer Altes wie Neues Testament umfassenden biblischen Theologie ist. Die Beiträge von Benjamins, Crouzel, Lies und Rigolot (besonders anschaulich und überzeugend der letztere) arbeiten als unwiderlegbar heraus, daß die biblische Theologie des Origenes nicht den immer zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, die schwer übersehbare Vielfalt biblischer Traditionen in einen ihnen fremden Rahmen zu pressen. Was seine Exegese in ihren verschiedenen hermeneutischen und homiletischen Strukturen bewirkt, ist vielmehr die immer neu und von immer neuen Ausgangspositionen aus vollzogene Einkehr in jene Dynamik, der sich die Zusammenfügung der beiden Bestandteile des Kanons verdankt. Sie hält diese so offen, wie die berühmte Schlußsentenz des Johannesevangeliums über die Wundertaten Jesu, die voraussetzt, daß ein Versuch, diese aufzuschreiben, die Fassungskraft des Kosmos überschreiten würde.

Auch wer überzeugt ist, daß dieses gewaltige Paradigma in die ganz andersartige Situation der heutigen Christenheit nicht übertragen werden kann ­ es steht vor uns als eines, das daran erinnert, daß es auf die Dauer zu unhaltbaren Konsequenzen führt, wenn eine immer weitergehende Aufsplitterung in unvereinbare und beziehungslose Teilexegesen es der praktischen Theologie oder gar dem einzelnen Pfarrer bzw. der Pfarrerin überläßt, der Gemeinde plausibel zu machen, warum die Kirche am Ganzen des alt- wie neutestamentlichen Kanons in ihren Gottesdiensten festhält.

Ist diese Würdigung der biblischen Theologie des Origenes dem historischen Tatbestand angemessen sichergestellt, dann wird auch ein anderer Gemeinplatz revidiert werden müssen, mit dem eine ganze Theologengeneration wie die meine großgeworden ist: Die allegorische Exegese sei letztlich eine aus den Zeitumständen erklärbare Spielerei, nämlich die Übertragung der stoischen Homer- und Mythenexegese auf die diesem Verfahren gänzlich unangemessenen biblischen Texte. Auch wer dem Einfluß antiker Rhetorik und philosophischer Literaturformen so sorgfältig nachgeht wie die Beiträge von Heine und Torjesen, gerade der wird am allerwenigsten übersehen können, welcher Umformung diese Traditionen in Origenes’ Umgang mit biblischen Texten unterliegen.

Der "geistliche Schriftsinn" (Crouzel) oder eine "Gottes würdige Schriftauslegung" (Lies) ­ das ist nun einmal etwas völlig anderes als allegorisierende Willkür. Wer das nicht einsieht und sich nicht von den Befangenheiten eines bloß literarwissenschaftlichen Umgangs mit der Bibel lösen kann (auch wenn dieser Form- und Überlieferungsgeschichte einbezieht), der wird niemals über das Urteil des dem Origenes wie allen Christen feindlichen Plotinschülers Porphyrios hinauskommen, Origenes habe in seiner Bibelauslegung nichts anderes getan, als die Mythenexegesen des Stoikers Cornutus nachzuahmen und sie auf die einer solchen Auslegung gänzlich unwürdigen Bibeltexte anzuwenden. Umgekehrt: Wird man nicht dort, wo man Buchstabe und Geist nicht mehr zu unterscheiden und Schrift nicht mehr zu Wort und Sprache zu verlebendigen vermag, am Ende mindestens mit Paulus in unlösbare Schwierigkeiten geraten, wie sie zur Zeit allenthalben in Kirche und Theologie zu beobachten sind? Auch Evangelientexte, die nun einmal nicht von den mehr oder weniger trivialen Erbaulichkeiten unserer Zivilreligion, sondern von den Geheimnissen des gegenwärtigen Gottes handeln, wird man am Ende überhaupt nicht mehr verstehen können.

Was endlich Origenes selbst anbelangt: Nach den überzeugenden Analysen, die Kannengiesser und McGuckin zu "Peri Archon" und der Struktur des Johanneskommentars vorgelegt haben, wird es nicht mehr möglich sein, Trinitätslehre und Christologie des großen Kirchenvaters so falsch einzuschätzen, wie es außerhalb der Fachliteratur noch weithin üblich ist. Weder kann seine von der nizänischen abweichende Dreihypostasenlehre als Subordinationismus noch seine Christologie als stoisch-mittelplatonische Kosmologie abgetan werden. Bei jener handelt es sich um den umfassenden Horizont einer Altes und Neues Testament einenden Offenbarungstheologie, bei dieser um die Einordnung des Logostitels in die nicht abzählbare Vielfalt der Aspekte (epinoiai) der Inkarnation.

Aber da wir jetzt von Origenes selbst sprechen, müssen auch die Fragen zu ihrem Recht kommen, die sich dem nachdenklichen Leser des Bandes stellen. Vor allem eine drängt sich auf: Wie kommt es, daß ein Kongreß, der dem Thema "Origenes und die Bibel" gewidmet ist, dieses Thema nur als einen Punkt unter sieben anderen und dann auch noch höchst sporadisch behandelt? Am krassesten fällt das angesichts der schon erwähnten lediglich zwei Beiträge zum gesamten Alten Testament auf.

Warum wurde nur der Johanneskommentar und nicht auch der Matthäuskommentar behandelt, obwohl ­ um nur dies zu erwähnen ­ die wichtigste und ausführlichste Äußerung des Origenes zu seinen Prinzipien der Textkritik in diesem Kommentar steht (Mt Comm XV,14)? Der Beitrag von Bastit bezieht sich zwar auf des Origenes Mt-Exegese, aber nur im Rahmen eines Vergleichs mit der Mt-Exegese des Hilarius von Poitiers.

Und kann der Beitrag von Heither über Röm 12,1-8 als zulängliche Würdigung der Röm-Auslegung gelten? Auch wenn diese nur im Latein des Rufinus erhalten ist ­ müßte nicht allein diese Tatsache Anlaß zu kritisch-würdigenden Überlegungen sein? Auch um der Frage nach dem Verhältnis des Origenes zum Judentum willen, die zwar immer wieder gestreift, aber selbständig nur in dem Beitrag von O’Leary behandelt wird, dies aber auf eine Weise, die meinen Widerspruch herausfordert.

O’Leary wirft die Frage auf (in einer Polemik gegen Heither): "Wo leiht er (gemeint ist Origenes) den Gegenargumenten der Juden geduldiges Gehör?" Ich setze voraus, daß O’Leary die erhaltenen Texte des Johanneskommentars genau so gut kennt wie den des Rm-Kommentares. Aber haben die seitenlangen Erörterungen jüdischer Einwände, besonders in Buch X des Joh.-Kommentars, überhaupt keinen Eindruck auf O’Leary gemacht? Freilich stimmt Origenes diesen Einwänden nicht zu ­ aber heißt

denn Zuhören auf jeden Fall zustimmen? Natürlich lesen wir das alles mit Augen, die das Auschwitzjahrhundert geschärft hat. Aber diese Schärfung des Blickes trübt sich sofort, wo wir, statt in den von Origenes attackierten Juden die Christen des zwanzigsten Jahrhunderts zu erkennen, uns zu Richtern einer Geschichte ernennen, die gerade nicht das Weltgericht, sondern das unermeßliche Feld menschlicher Kurzsichtigkeit ist.

Dieser Zusammenhang von jüdischer Ablehnung Christi und christlichem Unglauben, der sich nicht zuletzt in der christlichen Überhebung über Juden am offenkundigsten selbst überführt, wäre noch deutlicher geworden, wenn wenigstens der Inhalt der Pentateuch- und Jeremiahomilien des Origenes eigens thematisiert und in einer entsprechenden Anzahl von Beiträgen gewürdigt worden wäre.

Könnte man antworten, das alles sei doch seit de Lubacs berühmter Monografie von 1950 "Histoire et Esprit" längst ausführlich geschehen? Aber trifft das Gleiche etwa nicht auf die anderen Themen von Origeniana Sexta zu? Ich denke, es ist diesem Übergewicht der theoretischen Hermeneutik über die homiletische Praxis des Origenes geschuldet, daß ein Aspekt, der für die letztere fundamental ist, gar nicht ins Blickfeld gerät: nämlich der, daß Origenes, weil er die Christologie als Rettung des Gesamtkosmos versteht, genötigt ist, über eine bloße Texthermeneutik zu einer Semantik überzugehen, in der Somatisches und Pneumatisches sich so aufeinander beziehen, daß es keinen Teil der Schöpfung mehr gibt, der aus dieser Beziehung herausfällt:

"Denn man darf nicht denken, das Historische wäre Typ des Historischen und das Somatische Typ des Somatischen. Vielmehr ist das Somatische Typ des Pneumatischen und das Historische Typ des im Geiste zu Erkennenden." (Com Jn X 18)

Origenes hat gelegentlich seine Weise der Bibelauslegung charakterisiert, indem er sie auf der einen Seite von einem verwässerten und moralisch unverbindlichen Intellektualismus, dem genos hydaresteron, und auf der anderen Seite von dem eines rohen und barbarischen Litteralismus abgrenzte. Wer erkännte in dieser Alternative nicht genau jene Gefährdungen von inhaltloser Zivilreligion einer- und gewalttätigem Fundamentalismus andererseits wieder, die uns nur zu gut vertraut sind! Historische Gelehrsamkeit allein vermag aus dieser Sackgasse gewiß nicht herauszuführen. Aber sie vermag an Maßstäbe zu erinnern, denen jeder denkbare Lösungsvorschlag genügen muß.