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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

337–340

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Feldtkeller, Andreas

Titel/Untertitel:

Im Reich der syrischen Göttin. Eine religiös plurale Kultur als Umwelt des frühen Christentums.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994. 333 S. 8° = Studien zum Verstehen fremder Religionen, 8, Kart. DM 148,­. ISBN 3-579-01790-X.

Rezensent:

Christoph Markschies

Der recht poetisch klingende Titel "Im Reich der syrischen Göttin" überschreibt den interessanten Versuch, anhand des Zusammenlebens von Religionen in der antiken römischen Provinz Syrien einen Beitrag zu einer allgemeinen "Methode des Verstehens fremder Religionen" zu liefern. Syrien ist als maßgebliches Beispiel gewählt, weil nach Ansicht des Vf.s die "nach der Zeitenwende in Syrien vorhandenen Religionen... zum Präzedenzfall für die christliche Wahrnehmung von Religionen überhaupt" wurden, der hier entwickelte Umgang mit fremden Religionen zur praktisch unhinterfragbaren Norm ­ zur Norm, die man später auf den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus und viele andere Religionen anwandte (17). Die vorliegende Untersuchung stellt zusammen mit der durch Herrn Kollegen Haufe bereits besprochenen Monographie "Identitätssuche des syrischen Urchristentums" (NTOA 25, Fribourg/Göttingen 1993: ThLZ 119, 1994, 645f.) eine "völlig neue Bearbeitung" von Ergebnissen dar, die 1992 erstmals in der von Gerd Theißen und Theo Sundermeier betreuten Dissertation unter dem Titel "Das entstehende Heidenchristentum im religiösen Umfeld Syriens zur Prinzipatszeit" in Heidelberg vorgelegt worden waren. Ein Patristiker kann diese Untersuchung zwar referieren, wohl auch hinsichtlich ihrer historiographischen Seiten kommentieren und die Praktikabilität der vorgelegten Modelle für seine eigene Arbeit beurteilen ­ über systematische Beiträge zur Religionswissenschaft zu urteilen, fühlt er sich freilich nicht berufen. Zu dem von F. vorläufig entwickelten (27) und dann vierfach vertieften (53-55.146-149.192-195.256-258) systemtheoretischen Religionsbegriff mit den Bausteinen soziales System (Religion), psychisches System (Religiosität) und "(transzendente) Wirklichkeit hinter der Religion" sowie den beiden "Modellen religiöser Kommunikation und Erfahrung" (27. 193) müßten sich Fachleute äußern. Das gilt auch für das m.E. mehr systematisch-theologische denn religionswissenschaftliche Schlußurteil des Autors, daß die paganen syrischen Kulte im Blick auf eine "interreligiöse Kompetenz" dem Urchristentum als "überlegene Kultur begegnet" seien und "den missionarischen Impuls des Christentums in die richtigen Bahnen zu lenken geholfen haben" (295; "richtige Bahn" meint hier: die "Übernahme" dieser interreligiösen Kompetenz "mit derselben zielsicheren Selektion"). Der Kirchenhistoriker kann an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß man seiner Ansicht nach besser nicht von einer "interreligiösen Kompetenz" der antiken und spätantiken Christenheit sprechen sollte: Ihr ganzes Interesse ging in der überwiegenden Mehrheit dahin, zuerst mit dem Mittel der Predigt, später dann mit dem Mittel der Gesetzgebung und schließlich sogar mit dem der Gewalt darauf zu dringen, daß die als abscheulicher Götzendienst empfundenen fremden Kulte die Menschen nicht mehr in ihren Bann zogen. Davon ist das Problem, was möglicherweise faktisch aus den paganen Kulten bzw. dem, was F. das ihnen "übergeordnete Sinnsystem" nennt, rezipiert wurde, noch einmal sorgfältig zu trennen. Und wie man schließlich mit diesem historischen Befund heute umgeht, ist dann eine gänzlich andere Frage.

Zurück zum Inhalt der Arbeit: Sie besteht im Kern aus dem Versuch, zahllose epigraphische, archäologische und literarische Informationen zu den Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen Kulten zu sammeln und nach einem sorgfältigen methodischen Raster systemtheoretischer Provenienz in vier "Durchgängen" durch den Stoff zu präsentieren: "Verhältnisbestimmung zwischen Religionen inmitten von Religionsausübung" (51-141); "Verhältnisbestimmung zwischen Religionen zur Konstruktion religiöser Biographie" (145-186); "Verhältnisbestimmung zwischen Religionen durch Selektion aus dem religiös-kulturellen Erbe" (189-247) sowie "Verhältnisbestimmung zwischen Religionen als Religionsbetrachtung" (253-289). Alle vier "Durchgänge" sind analog gegliedert: Auf eine Einführung, die meist einen charakteristischen Text in Übersetzung vorstellt, folgen "Voraussetzungen", darauf "Typen", es schließt sich eine "soziologische Kontrollfrage" an und Beobachtungen zur "Anwendung" der jeweiligen "Verhältnisbestimmungen auf die einzelnen Systeme" (worunter F. pagane Religionen, religionsähnliche Systeme wie Astrologie, Magie, Dämonenglaube und philosophische Lehrgebäude sowie Judentum und Christentum versteht). Die vier Hauptkapitel werden jeweils durch Bemerkungen zum "Ertrag" abgeschlossen. Mit dieser sehr ausgefeilten Architektur des Vergleichs werden bestimmte Inkonsistenzen und Probleme des klassischen "Synkretismus"-Begriffes, die F. einleitend darstellt (20-25), vermieden, allerdings bleiben trotz aller erkennbaren methodischen Sorgfalt noch Anfragen an Sinn und Details.

Ein Beispiel: Zunächst stellt F. (75-104) verschiedene religiöse Verhältnisbestimmungen wie "funktionale" oder "interpretatorische" Zuordnung von Gottheiten verschiedener kultischer Provenienz (palmyrenisch ’Baalshamin’ wird mit griechisch Zeus übersetzt: C. Dunand, Le Sanctuaire de Baalshamin à Palmyre III, Les inscriptions, 1971, no. 45) bzw. ihre wertende Abgrenzung (einige Gesprächspartner des Lukian meinen, ein Heiligtum in Sidon gehöre der Astarte, die mit der von Zeus geraubten Europa zu identifizieren sei; andere bestreiten eben dies: Syr. D. 4). Sodann wird unter der Überschrift "soziologische Kontrollfrage" (105) gefragt, ob "sich ein unterschiedlicher Gebrauch solcher Verhältnisbestimmungen durch verschiedene soziale Gruppen feststellen läßt". Und F. schließt: "Für ausdrücklich konfligierende Verhältnisbestimmungen sind Äußerungen der Oberschicht völlig unergiebig" (106); Urteile in der Art, wie sie Lukian zitiert (Astarte ist nicht Europa), seien eher bei Philosophen bzw. Priestern als "Personengruppen, die über Bildung und Beauftragung verfügen" (109) und bei "Personengruppen, die nicht privilegiert sind" (111), zu beobachten. Ich befürchte, daß für derartig weitgehende soziologische Aussagen die Quellenbasis einfach nicht ausreicht; Lukian identifiziert beispielsweise zwar soziologisch recht präzise den, der Astarte und Europa in interpretatorischen Konnex setzt (dws de moi tis ton hireon apegeeto), aber nicht die, die das bestreiten (kai ton allon foinikon).

Die Arbeit beginnt mit einer knappen, lexikonartigen Vorstellung des Quellenmaterials (33-45), die vor allem jene religionswissenschaftlich orientierten Leserinnen und Leser des Buches gern nutzen werden, die sich nicht zuallererst mit der Antike beschäftigen. Daß sich hier hinter manchen Sätzen z.T. erhebliche Probleme und Kontroversen verbergen (Datierungen, Lokalisierungen usf.), wird der Eingeweihte jedenfalls wissen. Es folgen dann die genannten "Durchgänge": Als Ergebnis des ersten Durchgangs zur Religionsausübung hält F. fest, daß "die zwischen den Religionen wirksam werdenden Folgen arrangierender und konfligierender Verhältnisbestimmung" ein "Faktor der religionsübergreifenden Kultur in Syrien" sind (138). Damit meint er, daß die allgemeine Kultur etwa in den Tempeln durch die Verbindung von Göttern verschiedener Kulte geprägt war, aber beispielsweise auch der Konflikt mit der paganen Religiosität "die Religionsausübung" und das "Selbstverständnis" eines Ignatius von Antiochia charakterisierte. Judentum und Christentum hätten den "pluralistischen Grundkonsens" verlassen, der trotz aller Konflikte im Detail das "Reich der syrischen Göttin" prägte und deswegen wären ihre Konflikte prinzipiell anderer Natur gewesen. Allerdings habe es auch "Zugeständnisse an ein paganes System" gegeben, z. B. bei Matthäus "in seinem Umgang mit dem astrologischen System der Magier aus dem Osten" (140).

Der kürzere zweite Durchgang zur religiösen Biographie ergibt, daß bei Veränderungen im Bereich paganer Kulte "die frühere religiöse Bindung weitgehend in die neu entstehende Religiosität integriert werden" konnte (184), aber die galloi (d. h. hier die Tempeldiener der syrischen Göttin, die sich eigenhändig kastriert hatten; der informative und gründliche Artikel "Gallos" von G. M. Sanders in RAC VIII, 984-1034 ist für die Darstellung auf 162 f. allerdings nicht berücksichtigt) und kynischen Wanderphilosophen eine bezeichnende Ausnahme von dieser Regel bildeten. Das Christentum radikalisierte vorhandene Bilder, "um den stärkeren Bruch mit der Vergangenheit zu beschreiben, der in der Begegnung mit christlicher Verkündigung erlebt wurde" (185).

Der dritte Durchgang ("Selektion aus dem... Erbe") zeigt, daß in Syrien Ausdrucksformen fremder Kulte übernommen wurden. So besetzten beispielsweise "griechische und römische Kulte... heilige Orte traditioneller orientalischer Religionen" (247), ebenso waren die Samaritaner gegenüber "der stellvertretenden Inanspruchnahme aufgeschlossen" (248, F. konnte jüngst erschienene Arbeiten wie die von Alan D. Crown [mit-] herausgegebenen Sammelbände "The Samaritans" [Tübingen 1989] bzw. "Companion to Samaritan Studies" [ebd. 1993] nicht mehr einarbeiten); auch dies galt freilich wieder nicht in den "für das Judentum tonangebenden Gruppen" (248, hier wird die Ambivalenz der Hellenisierung des Judentums wohl doch zu knapp dargestellt) und auch das Christentum entwickelte nach F. im Gegensatz zu allen anderen Religionen einen ’eigenständig tragfähigen Vorrat an Ausdrucksformen’, um die "Inanspruchnahmen paganer religiöser Äußerungen so weit wie möglich zu vermeiden" (248).

Der vierte Durchgang (Religionsbetrachtung) trägt Belege für ein "religionsübergreifendes" "gemeinhellenistisches Sinnsystem" (287) zusammen, als dessen Grundgedanken F. formuliert: "Es gibt nur eine religiöse Wirklichkeit, die in den Religionen aller Völker erfahren wird" (ebd.). "Synkretismus" möchte der Autor dieses System nicht nennen, da er den Begriff als abwertend empfindet. Im syrischen Christentum seien "Erklärungsmodelle und Wertvorstellungen aus dem hellenistischen religionsübergreifenden Sinnsystem deutlich wiederzuerkennen". Dazu zähle z. B. der Wunsch, vor dem Maßstab der Traditionstreue bestehen zu können, weil sich die Christen bewußt "in den Traditionszusammenhang der israelitisch-jüdischen Religion" stellten (288 f., aber ist der "Maßstab der Traditionstreue" nicht bereits ein integraler Bestandteil des Judentums zur Zeit Jesu?).

Es liegt teilweise in der Natur der Sache, daß solche allgemeineren Ergebnisse weniger bunt und spannend wirken, als sich die Religionsgeschichte Syriens zur Prinzipatszeit darstellt.

Daran, daß eine neuere quellengestützte Gesamtdarstellung der Religionsgeschichte Syriens in der Prinzipatszeit ein dringendes Desiderat darstellt, kann trotz hervorragender Spezialuntersuchungen (F. nennt allerlei von ihnen in seinen Literaturverzeichnissen) gar kein Zweifel sein.

Schon Rudolf Bultmann hatte 1925 darauf hingewiesen, daß der "Anteil Syriens an der hellenistischen und urchristlichen Religionsgeschichte... dringend untersucht werden" müsse (Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, ZNW 24, 1925, [100-146] 145 = ders., Exegetica, Tübingen 1967, [55-104] 103). Ebensowenig läßt sich bestreiten, daß der Umgang der antiken syrischen Christenheit mit paganen Kulten eine Bedeutung für die ganze antike Christenheit gehabt hat und dringend weiter untersucht werden müßte.

Kann F.s Monographie diese Lücken schließen? Ich denke, sie will es gar nicht. Denn hier wird ja keine Gesamtgeschichte der Kulte "im Reich der syrischen Göttin" geschrieben, sondern ein bestimmter Aspekt dieser Religionsgeschichte mit hohem theoretischen Aufwand zur Darstellung gebracht. Ob man eine solche Explikation der Beziehungen zwischen antiken Kulten lieber in einem derartigen systemtheoretischen Gewand oder eher in einer nach einzelnen Kulten geordneten klassischen erzählenden Darstellung lesen mag, dürfte wohl eher eine Geschmacksfrage sein. F.s Zugang hat den Vorteil, daß unter der Fülle der Informationen nicht der rote Faden verloren geht und den Nachteil, daß einzelne komplexe Phänomene nur sehr schlaglichtartig in den Blick treten können. Häufig möchte man zu den Inschriften, Textproben oder Fundnotizen entweder mehr wissen oder aber Informationen ergänzen. Dies gilt um so mehr, da dem Vf. etliche feine Beobachtungen zu Texten gelingen (z. B. 177/189 zur Interpretation von Lukian, Syr. D. 55 als Darstellung eines Selbstopfers). Die grundsätzliche Entscheidung F.s (oder des Verlages?), antike Texte nur in Übersetzungen zu geben, erschwert den Zugang zu den Originalen; das Literaturverzeichnis hilft auch nicht immer weiter.

So wird beispielsweise zwar "die Orakelkritik des Kynikers Oenomaus" aus Gadara im Ostjordanland erwähnt (165), nicht aber Jürgen Hammerstaedts schlechthin grundlegende Monographie mit den kommentierten Texten (BKP 188, Frankfurt/M. 1988); zu Hyginus Mythographus finden sich gar keine Angaben. Für die berühmte Passage Strabo XVI 2,35 hätte man 213 auf Menahem Sterns praktische und anregend kommentierte Sammlung "Greek and Latin Authors on Jews and Judaism" (Vol. I, Jerusalem 1974 = 1992, 294. 299 f. 305 f) zurückgreifen können, ebenso 264 für XVI 2,39 (bes. Stern I, 307).

Dem Buch fehlen auch alle Register; hier kann man allerdings den "historischen Zwillingsbruder" zum "Reich der syrischen Göttin" konsultieren (dort 243-266; freilich ohne die immens wichtigen Inschriften, die F. in reichem Maße verarbeitet hat). Gelegentlich hätte man sich eine Abbildung gewünscht, aber so kann man ja zu der reichen Katalog-Literatur der verschiedenen Syrien-Ausstellungen der letzten Jahre in Deutschland, Österreich und Frankreich greifen und findet sie in aller Regel dort.

Ich schließe, indem ich Haufes Urteil zum "Zwillingsbruder" leicht variiere: Angesichts der außerordentlichen historischen und theologischen Bedeutung der verhandelten Materie und der angezeigten Forschungsdesiderate lohnt sich das kritische Gespräch mit dieser interessanten Arbeit, ihrer Methode und ihren Ergebnissen. Es könnte zu einem dringend erwünschten klareren Bild der Frühgeschichte des Christentums im syrischen Raum führen. Natürlich war es kaum möglich, dieses kritische Gespräch in dieser Rezension schon zu beginnen; dazu hätten weit mehr Bemerkungen zu Details der Methode und der Quellenbehandlung vorgetragen werden müssen. Allerdings wird man sich auch immer wieder klar machen müssen, was wir alles nicht wissen und auch kaum je erfahren werden: Auf unserer Landkarte des syrischen Christentums im 2. Jh. werden weiter erschütternd viele weiße Flecken bleiben und ohne Hypothesen wird es nicht abgehen. Diese müssen allerdings dann als solche gekennzeichnet werden.