Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1997

Spalte:

336 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scheuermann, Georg

Titel/Untertitel:

Gemeinde im Umbruch. Eine sozialgeschichtliche Studie zum Matthäusevangelium.

Verlag:

Würzburg: Echter 1996. XI, 279 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 77. DM 39,­. ISBN 3-429-01764-5.

Rezensent:

Hans-Theo Wrege

Dieser Veröffentlichung liegt eine 1995 von der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Würzburg angenommene und von H. J. Klauck betreute Dissertation zugrunde.

Die Arbeit gliedert sich insgesamt in 3 Teile: I. Humanwissenschaftliche Voraussetzungen und zugleich Begründung des methodischen Vorgehens; Anwendung der so strukturierten Kriterien auf II. Die Vereinssatzungen von religiösen Vereinigungen in Athen, Italien und Qumran (1QS); III. Die Anwendung der so gesicherten Fragestellungen und Gesichtspunkte auf Texte des Matthäusevangeliums.

I. Der Vf. rekapituliert noch einmal die Beziehung, die zwischen dem Text und der ihm entsprechenden sozialen Wirklichkeit unter dem Stichwort ’Sitz im Leben’ in der klassischen Formgeschichte (R. Bultmann) hergestellt wurde (2). Aber in deutlicher Nähe zu J. Jeremias sind die Sitze im Leben Jesu, der Gemeinde und der Literatur zu unterscheiden. Die forschungsgeschichtlich daraus hervorgehende Redaktionsgeschichte sieht der Vf. mit W. Egger (Methodenlehre) kommunikationstheoretisch als "Neukodierung" (3). Das spannungsreiche Nebeneinander von form- und redaktionsgeschichtlichen Ansätzen schlägt sich beim Vf. in der Zustimmung zu zwei entgegengesetzten Positionen Frankemölles (Evangelist und Gemeinde) nieder: "Eine vom Text getrennte Gemeinde gibt es nicht" ­ und: Anonyme, kollektive Gemeinden als schöpferische Textproduzenten sind abzulehnen. Der Vf. deutet seine eigene Position an, wenn er beiläufig auf "dieses Eingebundensein des Evangelisten in den Kontext seiner Gemeinde" (3) zu sprechen kommt. Insgesamt zeigt sich, wie z.B. bei E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, daß das Nebeneinander von form- und redaktionsgeschichtlicher Methodik dringend weiterer Klärung bedarf.

Der Vf. weist im folgenden auf sozialpsychologische Ansätze hin, die die Beziehung von Text und Gemeinde(n) erhellen können: So skizziert er die Theorie der kognitiven Dissonanz (4 f.), einschlägige Kategorien der Kulturanthropologie nach Malina und Douglas (5 f.), schließlich stellt er die Wiederaufnahme der Unterscheidung von Kirchen- und Sektentyp bei M. Weber und E. Troeltsch sowie ihre Anwendung auf das NT durch R. Scroggs vor (7 f.). Es folgt ein Hinweis auf die Unterscheidung von Wandercharismatikern und Gemeindeorganisatoren bei G. Theißen (8f.). Insgesamt schafft sich der Vf. so eine Auswahl von Lösungsmodellen, die die Beziehung von Texten auf die dahinterstehenden Gemeinden zu klären helfen sollen.

II. Doch bevor der Vf. den Ertrag dieser Vorarbeiten auf das MtEv anwendet, erarbeitet er mit ihrer Hilfe anhand der Vereinsstatuten der Athener Jobakchen ein detailliertes und lebensvolles Bild des Jobakchen-Vereins (es handelt sich dabei um eine Gemeinschaft, die den Namen des Dionysos/Bacchus trägt und den Zuruf ’Jo’ pflegt: "Juchhe, ihr Bakchen, he, ihr Bakchen!" [29]). So wird der Leser über alle Einzelheiten aus dem Vereinsleben informiert (Aufnahmegebühr, Mitgliederausweis, Riten, soziale Anlässe, Sanktionen bei Schlägereien und Handgemenge unter den Teilnehmern einer gemeinsamen Festmahlzeit, Ausbildung spezieller Ämter, Ansätze zur Hierarchisierung bei den Funktionsträgern usw.). Die Beziehung von Text und Gemeinde könnte nicht enger sein.

So vorbereitet wird der Leser an entsprechende jüdische Texte herangeführt, wobei der Vf. zunächst auf Qumran (1QS) eingeht (53 ff.), dann aber auf die Rolle der Synagoge in palästinischen und hellenistischen Kontexten überlenkt (95 ff.). Praktisch alle an den Jobakchen erarbeiteten Einzelgesichtspunkte lassen sich auch hier beobachten, so daß die Arbeit im Verlaufe ihrer Untersuchungen an innerer Geschlossenheit gewinnt.

III. Damit ist die Anwendung der bisherigen Schritte auf das MtEv vorbereitet (135 ff.). Der Vf. sieht die Matthäusgemeinde(n?) in der Phase eines tiefen Umbruchs. Dieser ist dadurch veranlaßt, daß das Verhältnis zum ’jüdischen Synagogenverband’ in ein kritisches Stadium getreten ist. Gleichzeitig hat sich die Gemeinde des Einflusses christlicher Wandercharismatiker zu erwehren, die sie nur als falsche Propheten erkennen kann (250 f.).

Der Leser dieser anregenden und materialreichen Untersuchung wird sich entweder mit den humanwissenschaftlich orientierten Lösungsmodellen des I. Teils oder mit manchen Einzelergebnissen der beiden folgenden Hauptteile kritisch auseinandersetzen wollen. Er wird dem Vf. dabei insbesondere für den behutsamen Umgang mit dem in der Arbeit latent allgegenwärtigen Thema der Ekklesiologie zu danken haben.