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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

333–335

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rein, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Tradition und Redaktion.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. 401 S. gr.8°= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 73. Kart. DM 118,­. ISBN 3-16-146458-3.

Rezensent:

Andreas Dettwiler

Der Vf. setzt sich mit der vorliegenden Arbeit zum Ziel, durch eine breit angelegte, in mehreren methodischen Längsschnitten durchgeführte Analyse von Joh 9 "Aufschlüsse über den Umgang des vierten Evangelisten mit Traditionen..., seine Art der literarischen Gestaltung des Textes sowie seine theologischen Positionen zu gewinnen" (6) und dadurch nicht zuletzt einen Beitrag zum Verhältnis von synchronen und diachronen Textzugängen zu leisten. Wie geht der Vf. dabei vor und zu welchen Resultaten kommt er?

Nach einer Einführung (1-10), die u. a. einen knappen forschungsgeschichtlichen Überblick zu joh Methodenproblemen im allgemeinen und zu Joh 9 im speziellen, weiter zum Ziel und Aufbau der Arbeit enthält, steht in Kap. 1 eine literarische Analyse an (11-165), die als erstes eine streng synchron ausgerichtete Exegese (12-64) und zum zweiten ­ darauf aufbauend ­ eine sehr extensive literarkritische Analyse von Joh 9 (65-165) umfaßt. Die synchrone Analyse, die fast durchgehend wertvolle Beobachtungen zu Syntax, Kohärenz, Stil, Semantik und schließlich zu Gliederung und Abgrenzung von Joh 9 enthält (vgl. nur 26-32.38 f.50-60), zeigt auf insgesamt stichhaltige Weise auf, daß Joh 9 eine sprachlich, erzählerisch und thematisch kohärente Einheit darstellt, die sorgfältig und klar aufgebaut ist. Nur ein Resultat sei hier ausdrücklich genannt: Anfang und Schluß von Joh 9 besitzen eine sowohl erzählerisch wie hermeneutisch wichtige Funktion, da zum einen Jesus nur hier aktiver Handlungsträger ist und zum anderen einzelne Jesus-Worte, insb. V. 3b-5.39, einer metakommunikativen Ebene zuzuordnen sind, die dem Leser zentrale theologische Deutungselemente für die Erzählung zuspielt (60 u. a.). ­ Wo kann, bei diesem Befund, die literarkritische Analyse überhaupt noch einsetzen? Nach Meinung des Vf.s können trotz des Resultats der synchronen Analyse vorhandene Textsignale nicht übergangen werden, die auf verarbeitete Traditionen schließen lassen (Unebenheiten, Brüche, Unterbechungen des Zusammenhangs, etc.; vgl. nur 85). Aufgrund einer minutiösen Diskussion der fraglichen Phänomene (Wechsel "Pharisäer"/"Juden" in V. 13ff./ 18 ff.;Spannungen in der einleitenden Heilungsgeschichte V. 1-7; die nachträgliche Nennung des Sabbats in V. 14; der auffällige Kommentarsatz in V. 22 f.; die nachhinkenden V. 40 f.; etc.) kommt der Vf. zum Schluß, daß in keinem der Fälle eine schriftliche Vorlage angenommen werden muß, die ein literarisch wie theologisch markant anderes Profil als der Endtext Joh9 aufwiese. Vielmehr genüge die Annahme mündlicher Traditionen, die der für die Endgestalt von Joh 9 verantwortliche Evangelist weitgehend selbst verarbeitet habe.

Kap. 2 befaßt sich konsequenterweise mit der formgeschichtlichen Untersuchung von Joh 9 (166-283), denn die Formgeschichte stellt nach Ansicht des Vf.s das produktivste methodologische Instrument zur Identifizierung älterer mündlicher Traditionen dar. Das Kap. setzt ein mit einer narrativen Analyse (169-191; warum erst hier und nicht schon innerhalb der synchronen, insbesondere der semantischen Textbeschreibung?), um danach Joh 9,1-41 (nicht nur 9,1-7! ­ zunächst recht überraschend, aber vermutlich doch vertretbar) mit der Gattung der urchristlichen Wundergeschichten zu vergleichen. Joh 9 ordnet sich dabei relativ problemlos in diese bekannte Gattungsvorlage ein, hebt sich aber gleichzeitig durch seinen Umfang und seine kompositorische Geschlossenheit deutlich von ihr ab (besonders auffällig ist natürlich der ’Schlußteil’ V 8-41; der Erzähler ist primär "an der Reaktion der verschiedenen Personengruppen auf das Wunder interessiert, mehr als an dem Heilungsgeschehen selbst", 204; vgl. auch 210 f. 258).

Auf die formgeschichtliche Untersuchung einzelner Textabschnitte (231-253) folgen insgesamt gut begründete Ausführungen zum Sitz im Leben und zum historischen Bezug des Textes (253-277). Sitz im Leben von Joh 9 ist, zumindest auf der Stufe des Evangelisten, nicht die Mission, sondern die Apologetik gegenüber zeitgenössischen jüdischen Autoritäten, komplementär dazu die innergemeindliche Stärkung und Vergewisserung (258-260. 276 f.). Die in Joh 9 deutlich durchscheinende behördliche Stellung der Pharisäer, der Hinweis auf den Synagogenausschluß in 9,22f.34 (warum wurde hier die dritte, überarbeitete Aufl. von Wengst nicht mehr berücksichtigt?) und anderes mehr weist auf einen Zeitraum Ende des 1. Jh.s n. Chr. hin.

Kap. 3 schlägt traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Joh 9 vor (284-339), wobei "Traditionsgeschichte" nach dem Vf. nicht nur das traditum, sondern auch das tradere, d. h. die synthetische Rekonstruktion der mündlichen wie auch der schriftlichen Entwicklungsstufen im Blick hat. Die Tradiergeschichte von Joh 9 umfaßt drei Stufen (286-293): Stufe 1 umfaßt eine ursprüngliche Wundergeschichte (bestehend aus V. 1-3a.6-7; allerdings nur mündlich überliefert) und traditionsgeschichtliche Elemente innerhalb von V. 8-12.35-38, welche allerdings nur schwer rekonstruierbar sind (insb. Reaktionen des Erstaunens und des Zweifels; Frage nach der Identität des Wundertäters und ihrer Beantwortung; Glaube); Stufe 2 erweitert die Wundergeschichte durch die Elemente der Sabbatnennung und der Pharisäer mit ihrer zunächst ambivalenten Haltung gegenüber Wunder wie Wundertäter (im wesentlichen also V. 13-17); Stufe 3, die sich dem Evangelisten verdankt, erweitert seinerseits Stufe 2 durch die Einführung von V. 3b-5 und V. 18-34 sowie der Ergänzung V. 39-41. Der die Wundergeschichte in allen ihren Entwicklungsstadien begleitende und identitätsstiftende Kern (der Vf. benützt hierfür auch den Begriff des Plot) ist dabei derjenige der Identität Jesu. Der Vf. analysiert im folgenden die Jesuslogien V. 4 und V. 39, sowie weitere Motivzusammenhänge (Licht, Blindenheilung, Messias, Verstockung), die allesamt in den atl.-jüd. Traditionsbereich, insbesondere auf Jesaja, verweisen.

Kap. 4 ist der Redaktionsgeschichte von Joh 9 gewidmet (340-353), fällt allerdings relativ blaß und kurz aus, da der Vf. das Wesentliche dazu bereits in den traditionsgeschichtlichen Ausführungen dargestellt hatte. Wirklich neu ist hier nur der Versuch, einige erzählerische und thematische Bezüge zwischen Joh 9 und dem JohEv aufzuzeigen und also Joh 9 als Teil des Makrotextes JohEv zu verstehen.

Kap. 5 (354-366) beschließt die Arbeit durch eine knappe Rekapitulation der wichtigsten Ergebnisse, durch einen Ausblick auf methodische Postulate für die Joh-Forschung und schließlich durch ansprechende, wenn auch vielleicht zu kurz geratene Erwägungen zu theologisch zentralen Sachverhalten von Joh 9.

Eine kritische Würdigung wird zunächst hinweisen auf die wohltuend unpolemische und faire Auseinandersetzung des Vf.s mit der Sekundärliteratur, auf sein insgesamt kompetentes exegetisches Urteilvermögen und insbesondere auf zahlreiche sorgfältige Beobachtungen am Text, die auch in theologischer Hinsicht substantiell sind.

Beim gewählten Ansatz, Joh 9 in mehreren großen methodischen Längsschnitten zu interpretieren, sind gewisse Doppelspurigkeiten und Längen fast unumgänglich, einige wären jedoch vermeidbar gewesen (beispielsweise. sind volle 100 Seiten Literarkritik für einen Text wie Joh 9 doch reichlich viel). Die narrative Analyse leidet insgesamt an theoretischen Defiziten; beim heutigen Diskussionsstand im Bereich der Erzählforschung reicht ein hauptsächlicher Rekurs auf das ntl. Methodenlehrbuch von W. Egger nicht mehr aus. Theologisch schließlich hätte ich insb. den in Joh 9 begegnenden, hochreflektierten Gerichtsgedanken noch stärker zu profilieren versucht, auch wenn sich in der Arbeit von R. da und dort schon einige treffende Bemerkungen dazu finden.

Wie aber steht es um das zentrale Anliegen des Vf.s, einen Beitrag zum Verhältnis von Tradition und Redaktion im JohEv zu leisten? Zu Recht plädiert der Vf. für ein komplementäres und sich gegenseitig kontrollierendes und korrigierendes Verhältnis von synchronen und diachronen Textzugängen (85, im Anschluss an die konzisen Ausführungen von Kügler; auch 354f.). Zu Recht postuliert er als methodische Prämisse, daß der Text sowohl als Ergebnis eines Entstehungsprozesses, dessen Spuren im Text noch deutlich wahrnehmbar sind, als auch "als sinnvolle Einheit auf der Ebene der Endredaktion" (354) verstanden werden kann und muß; daß Tradition und Endtext dergestalt aufeinander zu beziehen sind, "als einerseits das Überkommene aufgenommen, tradiert und interpretiert wird, andererseits Aussagen der Vorlage ergänzt und korrigiert werden, ohne diese völlig zu überarbeiten" (ebd.) ­ eine methodische Prämisse, die der Vf. im exegetischen Durchgang durch Joh 9 insgesamt durchaus zu verifizieren imstande ist.

So weit, so gut. Allerdings hat ­ man möge mir diese kleine Schlußnotiz nachsehen ­ der Vf. durch die Auswahl seines Basistextes (Joh 9) dabei praktisch zum voraus schon gewonnenes Spiel. Denn es gibt im ganzen JohEv nach meinem Dafürhalten wohl keinen kohärenteren Text als eben Joh 9. Wie aber verhält es sich mit Texten wie Joh 8 u.a. (vgl. der Vf. selbst 355), die wesentlich inkonsistenter sind als Joh 9?