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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

331–333

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pilhofer, Peter

Titel/Untertitel:

Die erste christliche Gemeinde Europas. Bd.1.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. XXII, 316 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 87. Lw. DM 168,­. ISBN 3-16-146479-6.

Rezensent:

Ulrich B. Müller

Die Untersuchung stellt die Druckfassung einer Habilitationsschrift (Münster) dar, wobei ein angekündigter umfangreicher zweiter Band eine Sammlung der auf dem Territorium von Philippi gefundenen Inschriften enthalten soll. Der Vf. geht von der Entdeckung einer Forschungslücke aus, insofern die neueren Ergebnisse archäologischer und epigraphischer Erforschung der römischen Kolonie Philippi im Blick auf die Interpretation der frühchristlichen Texte endlich auszuwerten sind.

Nach der Einleitung, die über die Sammlung der Inschriften, die literarischen Zeugnisse und die archäologischen Befunde Bericht erstattet, versucht das 1. Kapitel "Philippi im ersten Jahrhundert" (49-113) eine deutlicheres Bild der Stadt Philippi und ihrer Bewohner am Vorabend der paulinischen Mission zu zeichnen. Es geht um die Bestimmung des Grenzverlaufs des Territoriums, um die Festlegung des pomerium, der sakralen Stadtgrenze also, was Folgerungen für die Lage der proseuche in Apg 16 hat (vgl. 165-174), besonders aber um ihre Bewohner. Neben die alteingesessenen Thraker traten die Griechen; einflußreichste Gruppe aber bildeten seit der im Jahre 42 v. Chr. einsetzenden Romanisierung die Römer, die die politische Macht in Händen hatten. Zwar blieb das Griechische wohl die allen Bewohnern gemeinsame sprachliche Kommunikationsbasis (86) und waren die Römer zahlenmäßig nicht in der Mehrheit, "wie es das römische Gepräge der Stadt vermuten lassen könnte, aber das Lebensgefühl war durch und durch römisch." (92).

Auf dieser Erkenntnis baut das 2. Kapitel "Paulus" auf (114-152). Für den Vf. ist entscheidend, daß Paulus im Phil auf diese römische Denkweise ganz und gar eingeht, die auch die Christen prägte, die keinesfalls zu den privilegierten cives Romani gehört haben (115). Sie bestimmt die völlig ungriechische Anrede filippesioi (Phil 4,15), was an sich keine neue Erkenntnis darstellt. Sie leitet aber auch die Rede vom himmlischen politeuma der Christen (Phil 3,20), die als sprachliche Folie römisches politeuma = Bürgerrecht voraussetzt, das sich für römische Bürger in der Zugehörigkeit zur tribus Voltinia konkretisiert. Nur so erklärt sich die Erwähnung des "Stammes Benjamin" (Phil 3,5) als Nachweis des Judeseins des Paulus, die als Pendant zu der in Philippi gültigen Zugehörigkeit römischer Bürger zur tribus Voltinia zu sehen ist (123-127). Paulus schildert sein eigenes, inzwischen überwundenes Judesein in 3,4 ff. ganz in römischen Kategorien, so daß sogar der Verweis auf die Beschneidung dem Anziehen der toga virilis angeblich entspricht (126 f.) Warum aber diese intensive Berücksichtigung römischer Denkweise bei Paulus?

Obwohl Juden in Philippi kaum eine Rolle spielen, treten diese in Gestalt der Gegner neu auf den Plan. In seiner Polemik gegen sie stilisiert Paulus seine Vergangenheit als die eines exemplarischen Juden mit den Kategorien römischen Denkens, um das von den Gegnern propagierte jüdische politeuma zu diskreditieren, damit es nur als eine Variante römischer Daseinsweise erscheint, die gleichfalls mit Christus erledigt ist (134). An dieser Stelle ist allerdings zu fragen, ob der Vf. mit seiner Deutung nicht überzieht. Schon die Kompliziertheit der angenommenen Argumentationsstrategie des Paulus muß mißtrauisch stimmen. Wenn der Vf. selbst an anderer Stelle von den "unrömischen Christen" Philippis spricht (135-139), wenn Lydia aus dem fernen Thyatira mit dem Rechtsstatus einer incola eine besondere, ja exemplarische Bedeutung für die Gemeinde gehabt haben mag, wie kann man dann eine solch intensive römische Prägung der Gemeinde voraussetzen, die Paulus seinerseits zu dieser eigentümlichen Argumentation nötigt? Ein betontes Eingehen auf philippische Gegebenheiten (neben Phil 4,15) ist allerdings bei der Erwähnung der auffälligen episkopoi (1,1) durchaus erwägenswert, die paganen Funktionsträgern in religiösen Vereinen entsprechen dürften (140-147).

Das bedeutende 3. Kapitel der Arbeit "Lukas" kann zeigen, daß schon die auffällige Schilderung des Übergangs des Paulus nach Makedonien (Apg 16,6-10) aus makedonischem Interesse heraus gestaltet ist (153-159), ja daß der Verfasser der Apg vermutlich aus Philippi stammt. Dafür sprechen die besondere Ausführlichkeit des Abschnitts über Philippi (Apg 16,11-40), die außergewöhnlichen topographischen und verwaltungstechnischen Detailkenntnisse in diesem Abschnitt sowie die Solidität der biographischen Angaben über Beruf und Herkunft der Lydia, die ein spezifisches Interesse an den Traditionen zeigen, die den Ursprung gerade dieser Gemeinde betreffen (204 f.). Im übrigen verrät die redaktionelle Gestaltung (16,35-40) den Wunsch des Lukas, daß die Christen sich mit den römischen Behörden arrangieren könnten (204 f. 254).

Das 4. Kapitel "Polykarp" (206-228) geht zu Recht von der Unterscheidung zweier ursprünglicher Briefe aus: zuerst PolPhil 13 als Begleitschreiben an die Philipper im Todesjahr des Ignatius von Antiochien ­ sodann PolPhil 1-12.14 (206-212). Die veränderte Situation des zweiten Schreibens erweist sich zunächst darin, daß die philippische Gemeinde nicht nur bereits auf den Märtyrertod des Ignatius, sondern auch auf eigene Märtyrer zurückblickt (9,1). Damit ergibt sich eine gewandelte Lage gegenüber der Zeit des Lukas, der noch ein Arrangement mit den städtischen Behörden für möglich hält; das Gebet der Gemeinde gilt jetzt den principes (12,3), eben den munizipalen Behörden, die die Christen in Philippi inzwischen verfolgen und hassen (214-218). Eine neue Gemeindesituation betrifft auch die Bezeichnung für die Leitungspersonen der Gemeinde. Erwähnt Paulus in Phil 1,1 episkopoi, so fehlt dieser Titel bei Polykarp ganz. Es gibt nur die Gruppe der presbuteroi. Anscheinend gibt es noch gar keinen monarchischen Bischof. Man hat sich in Philippi nur dem sonstigen kirchlichen Sprachgebrauch angepaßt, insofern man die leitenden Funktionäre nicht mehr episkopoi, sondern presbuteroi nennt (227 f.).

Das 5. Kapitel "Zur Geschichte der christlichen Gemeinde in Philippi" (229-258) bündelt die Einzelergebnisse der Untersuchung. Ausgehend von der kleinen jüdischen Gemeinde, zu der als "Gottesfürchtige" Lydia gehört hat, entsteht die erste christliche Gemeinde, vornehmlich aus Griechen, wie die Namen verraten ­ die Lieblingsgemeinde des Paulus (245), die er dreimal besucht hat. Die zweite Gemeindegeneration kommt in der lukanischen Redaktion von Apg 16 zu Wort, die von dem Optimismus geprägt ist, Christsein und Romtreue in friedlicher Weise verbinden zu können. Im Blick auf die Zeit Polykarps zeigt sich, daß diese Hoffnung getrogen hat.

So sehr die grundlegende Arbeit an der Sammlung der Inschriften Philippis und der Aufarbeitung der archäologischen Befunde anzuerkennen ist, so wenig ist doch zu verschweigen, daß der Vf. bei der Auswertung der lokalgeschichtlichen Ergebnisse gerade im Paulusteil seiner Arbeit zu weit geht. Die unterstellte römische Argumentationsweise gegenüber den Philippern ist in Phil 3 kaum zu verifizieren. Ansonsten aber kann die Arbeit mit interessanten und überzeugenden Ergebnissen aufwarten, die der Erhellung frühchristlicher Geschichte dienlich sind.