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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

513–515

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tucker, Ruth. A.

Titel/Untertitel:

Bis an die Enden der Erde. Missionsgeschichte in Biographien. Hrsg. u. erg. von K. Rennstich.

Verlag:

475 S. 8°. Kart. DM 44,­. ISBN 3-7722-0208-X.

Rezensent:

Hans-Werner Gensichen

Missionsgeschichte ist von jeher auch als Missionarsgeschichte geschrieben worden. Erstaunlich ist jedoch, daß gerade in einer Zeit der Krise und des Strukturwandels in der herkömmlichen Mission die "Missionsgeschichte in Biographien" eine Art Konjunktur erlebt. Fast gleichzeitig mit der vorliegenden Neuerscheinung kommt z. B. eine populäre Abhandlung darüber heraus, "was Gott aus dem Leben von schwachen Menschen im Dienst der Mission machen kann" (Winrich Scheffbuch, Jenseits der endlosen Meere, Neuhausen 1996). Auf katholischer Seite wäre das vergleichbare Werk von Bruno Moser (Gehet hin in alle Welt, München 1984) zu nennen. Von bloßer Nostalgie dürfte dabei kaum zu reden sein, erst recht nicht bei dem seit langem vorbereiteten Großprojekt eines "Biographical Dictionary of Christian Missions", das unter Beteiligung von Fachgelehrten aus aller Welt 2380 Artikel bietet und im Herbst in New York erscheinen soll.

Schon jetzt zeichnet sich offenbar eine itio in partes ab: einerseits die überwiegend aus Kreisen der evangelikalen Mission stammende "Zusammenfassung der Geschichte der Mission", die "sich auf Lebensbilder stützt" und ausdrücklich damit rechnet, daß dadurch bei vielen Lesern die Bereitschaft geweckt wird, "sich von Gott zur größten Aufgabe der Menschheitsgeschichte rufen zu lassen" (Tucker 8); andererseits die zweckfreie Erforschung der Missionsgeschichte unter der Maxime von R. W. Emerson, daß alle Geschichte eigentlich Lebensgeschichte sei, die also nicht durch Fortschreiben des Vorhandenen zu erfassen wäre, sondern auch als offener Lernprozeß, der kritische Auseinandersetzung ermöglicht. So gewiß dabei die populäre Darstellung ihren Platz hat, so gewiß wird sie sich daran messen lassen müssen, ob sie sich primär der historischen Wahrheit verpflichtet weiß.

Im vorliegenden Werk kommt ein besonderer Umstand hinzu, der für die sachgerechte Einordnung zu beachten ist: Der deutsche Hg. hat das von der amerikanischen Historikerin Ruth A.Tucker stammende Original (bis 1994 in 14 Auflagen erschienen) nicht lediglich übersetzen lassen, sondern hat es auch überarbeitet, d. h. von der Vorlage nur etwa die Hälfte beibehalten und 17 eigene Beiträge hinzugefügt, einschließlich eines Nachworts über Zustand und Zukunft der Weltmission. Die Übersetzung von A. Gleiß u. a. ist durchweg akzeptabel. Daß sie den erbaulichen Tonfall des Originals beibehält, ist weitgehend Geschmackssache. Weniger einleuchtend ist das Verfahren des Hg.s, die nachreformatorische katholische Mission gänzlich zu übergehen, beginnend bei Franz Xaver, Roberto de Nobili usw. Hier ist eine Chance zur Wahrung des ökumenischen Gleichgewichts vertan worden, zumal in späteren Kapiteln überwiegend angelsächsische protestantische Missionarinnen und Missionare behandelt werden, deren gesamtchristliche Bedeutung kaum an die der großen Pioniere der katholischen Mission heranreicht. Die orthodoxe Mission wird nicht berücksichtigt.

Für die Frühzeit werden ­ außer Felicitas und Perpetua von Karthago, von denen schon Hans von Campenhausen sagte, daß ihr Martyrium "wirklich der Mission diente" (KGMG I,77) ­ auch Wulfila, Patrick und Columba (nicht "Columban", 32 f!) behandelt, allerdings ohne daß die Unterschiede der Situation zwischen Alter Kirche und Frühmittelalter ausreichend berücksichtigt würden. Die Mission der katholischen Kirche, beginnend mit Papst Gregor I. (nicht 569, sondern 596 [39]), wird an Hand der Beispiele von Bonifatius, Ansgar, Lullus, Las Casas und Ricci (der als einziger das Prädikat "Missionar des Kreuzes Christi" erhält, 55) allzu knapp beschrieben ­ rund ein Jahrtausend auf zwanzig Seiten. Leider sind hier wie auch sonst die Literaturangaben zu den Einzelkapiteln für den deutschen Leser wenig hilfreich, da sie ­ anders als die Gesamtbibliographie am Schluß des Werks (456 ff.) ­ überwiegend auf angelsächsische Werke beschränkt sind. Enttäuschend sind die Angaben über die frühe protestantische Mission, soweit sie sich auf die Dänisch-Hallische Mission beziehen. In dem kurzen Abschnitt über ihre Anfänge (65) ist nahezu alles falsch:

König Friedrich IV. von Dänemark (nicht "Ferdinand"; der falsche Name ist leider auch ins Register eingegangen, 474) war keineswegs "selbst Pietist". Er hat sich auch nie selbst "mit der Bitte nach Halle gewandt, ihm Missionare zur Verfügung zu stellen". 1714 wurde in Kopenhagen nicht eine "Missionsschule" eröffnet, sondern ein "Missionskollegium" als Aufsichtsinstanz installiert. Somit konnte auch der "berühmte Hans Egede" dort nicht ausgebildet worden sein, wie der Hg. angibt. Außerdem war diesem 1721 nicht die Gründung einer "Missionskolonie", sondern zunächst die Leitung einer Handelsniederlassung zugedacht. Und alles dies konnte schon deswegen nicht ­ wie es im Text heißt ­ "der Ausgangspunkt für die Dänisch-Hallische Mission" sein, weil diese bereits 1706 im indischen Tranquebar begonnen hatte. Auch die hier angeschlossene Information über den Tranquebar-Missionar C. F. Schwartz, der erst 1750 nach Indien kam und keineswegs nur "entlang der Küste reisend, das Evangelium predigte", sondern in bisher nicht erreichten Städten des Hinterlandes wirkte, ist dürftig. Eine kurze Orientierung in der reichlich vorhandenen neueren Literatur über die Tranquebar-Mission hätte alle die hier aufgezählten Fehler verhindern können.

Im übrigen wird hier einmal mehr deutlich, daß die Bedeutung der Dänisch-Hallischen Mission für die gesamte protestantische Missionsgeschichte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der gegenwärtige Forschungsstand läßt es jedenfalls nicht mehr zu, Gestalten wie Bartholomäus Ziegenbalg und seine Mitarbeiter oder auch C. F. Schwartz mit ein paar Bemerkungen unter dem Stichwort "Verachtete Pioniere" einzuordnen (104) und im Literaturverzeichnis vollends zu ignorieren (458), während die Mission der Brüdergemeine auf fünfzehn Seiten beschrieben wird.

Die Tatsache, daß Zinzendorf nach eigenem Zeugnis (vgl. A. Lehmann, Es begann in Tranquebar, Berlin 21956, 190) überhaupt erst durch die persönliche Begegnung mit Ziegenbalg zur Mission gekommen ist, wird unterschlagen. Auch in Tuckers Beitrag über William Carey (105 ff.) hätte erwähnt werden können, daß der Beginn der baptistischen Mission von Serampore indirekt auf Einwirkung der Tranquebar-Mission zurückging (Lehmann, a. a. O.). Careys zweite Frau, Charlotte Emilia geb. von Rumohr, stammte zwar aus schleswig-holsteinischem Adel, gehörte aber nicht "zur dänischen Königsfamilie" (111). Im sonst sehr informativen Artikel über Henry Martyn ist der Hinweis auf Schwierigkeiten durch die Dänisch-Ostindische Kompanie irrelevant, da die Kompanie nicht im gesamten Indien, sondern nur in von ihr besetzten Handelsplätzen Jurisdiktion ausübte und ihr Handelsmonopol 1772 überhaupt aufgehoben wurde (114).

Das "Große Missionsjahrhundert" steht zunächst im Zeichen Afrikas. Artikel über die bekannten englischen Missionspioniere werden durch vom Hg. verfaßte Beiträge über Johannes Rebmann, Johann Ludwig Krapf und J. Christaller ergänzt (wobei Krapf allerdings an die erste Stelle gehört). China und der Pazifik werden als Einheit behandelt, in der das "Südsee-Paradies" etwas zu kurz kommt, während gewichtige Beiträge des Hg.s über K. Gützlaff, Th. Hamberg und R. Lechler, neben Tuckers Artikel über J. Hudson Taylor, China ein Übergewicht sichern. Der Hg., früher selbst im Dienst der Basler Mission, hat dieser außerdem ein Sonderkapitel gewidmet, mit dem sechs ihrer Mitarbeiter im 19. Jh. geehrt werden ­ verständlich, aber schwerlich fair gegenüber den vielen Missionaren anderer deutscher Gesellschaften dieser Epoche.

Ebenso zwiespältig muten die dann folgenden Kapitel von Tucker über Missionarinnen, die studentische Missionsbewegung, Spezialisten verschiedener Art im Missionsdienst an, in denen fast ausschließlich englische bzw. amerikanische Namen erscheinen (247 ff.). Zweifellos handelt es sich durchweg um verdiente Männer und Frauen, zumal wenn sie auch Gründer neuer missionarischer Gemeinschaften waren. Die angelsächsische Kopflastigkeit dieser Abschnitte wird trotzdem dem Umstand nicht gerecht, daß auch im 19. Jh. Mission nicht nur ihrer Zielsetzung nach, sondern auch hinsichtlich ihrer Ursprünge über nationale und konfessionelle Grenzen weit hinausreichte. Der Hg. hat immerhin mit einem freilich sehr knappen Beitrag über Albert Schweitzer (332 f.) die anglophile Monotonie durchbrochen. Aber auch er hat nicht die Angabe korrigiert, daß der Brite John Thomas (1757-1801) der erste protestantische Missionsarzt gewesen sei (331). Faktisch wurde der erste hauptamtliche Mediziner bereits 1729 im Dienst der Dänisch-Hallischen Mission ausgesandt, wenngleich dies nur eine kurze Episode war (vgl. C. H. Grundmann, Gesandt zu heilen! Gütersloh 1992, 111 f.).

Beide, die Vfn. und der Hg., sind sich dessen bewußt, daß die "Schwerpunktverlagerung von Norden nach Süden" neue Bedingungen für die Mission schafft (454). Zwei Schlußkapitel und ein Nachwort befassen sich mit dieser Situation, zunächst hinsichtlich der einheimischen Leitung der Kirchen und der Wahrnehmung ihres Zeugnisauftrags. Die drei Beispiele aus Uganda, China und Korea sind treffend. Der Hg. fügt noch Byung Mu Ahn, Sadhu Sundar Singh und Toyohiko Kagawa hinzu.

Daß die neuzeitlichen "Beweger für die Weltmission" (genannt werden, ein Holländer und zwei Amerikaner) sämtlich der evangelikalen Richtung angehören, versteht sich offenbar von selbst. Gerade an diesem kritischen Punkt zeigt sich aber, wie sich der ökumenische Horizont der Darstellung mit zunehmender Annäherung an die gegenwärtige Lage verengt. Wo bleiben "Beweger" wie K . L. Reichel (China), B. Gutmann und E. Johanssen (Ostafrika), V. S. Azariah (Indien), D. T. Niles (Sri Lanka), Vater und Sohn Warneck, M. Warren und Lesslie Newbigin, W. Freytag, K. Hartenstein, D. J. Bosch, Bengt Sundkler, von Bahnbrechern in der katholischen Mission zu schweigen? Das vorbildliche neue, von G. H. Anderson u. a. herausgegebene Sammelwerk "Mission Legacies" mit seinen 77 Biographien von 66 Autoren (American Society of Missiology Series, No.19, Maryknoll, N. Y., 1994) beweist, daß ein oder zwei Einzelverfasser dem Stoff schlechterdings nicht mehr gerecht werden können, sondern daß nur internationale und ökumenische Zusammenarbeit die heute unerläßlichen Anforderungen erfüllen kann.