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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

506–509

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heyden, Ulrich van der, u. Heike Liebau [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Missionsgeschichte, Kirchengeschichte, Weltgeschichte. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwicklungen in Afrika, Asien und Ozeanien.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 1996. 472 S. gr.8°. = Missionsgeschichtliches Archiv, 1. Geb. DM 120,-. ISBN 3-515-06732-9.

Rezensent:

Hans-Werner Gensichen

Der vorliegende Band stellt in mehr als einer Hinsicht ein Novum dar: Er eröffnet eine Reihe "Missionsgeschichtliches Archiv", die von der neu gegründeten Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte herausgegeben wird. Er enthält die 32 Referate einer internationalen missionsgeschichtlichen Tagung, die im Oktober 1994 in Berlin stattfand und erstmals missionsgeschichtliche Forschung als ",Hilfsmittel’ zur Erforschung von Regionalgeschichte der ehemaligen Missionsgebiete" präsentierte (11). Erstmals trat dabei auch der Berliner "Forschungsschwerpunkt Moderner Orient in der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben" als Mitveranstalter und -herausgeber in Erscheinung. Damit wurde es möglich, zwei "übergreifende Schwerpunkte" der Tagung zu definieren: Missionsgeschichte im weiteren Sinn "als Bestandteil der Regionalgeschichte der betreffenden Missionsgebiete", sowie "breite interdisziplinäre Nutzung von missionarischen Quellen" (12). Ein Votum von theologischer Seite fügte dem noch den Hinweis auf das legitime "theologische Eigeninteresse", also den Dienst an der "wissenschaftlichen Selbsterkenntnis des Christentums und dessen Sachwalterin, der Kirche," hinzu (16).

Schon die einleitenden vier Hauptreferate lassen freilich erkennen, daß andere Anwesende ­ auch Theologen sich einer solchen Zweckbestimmung nicht ohne weiteres unterwerfen würden. So ist es immerhin der Interpret der Alten Kirche und ihrer Mission, der für die Gegenwart und Zukunft weniger eine "missionarische Mission" als vielmehr, mit ausdrücklichem Hinweis auf Lessing, "kooperative und rettende Mission ohne Rücksicht auf die eigene Religion oder Nichtreligion" postuliert (K. V. Selge, 46), was für eine theologische Legitimation der Missionsgeschichte wenig Raum ließe. Der Sprecher der afrikanischen Christenheit, ein tanzanischer Lutheraner, sieht die Dinge anders: Nach der Ära der Abhängigkeit von westlichen Importen ist es die Aufgabe der afrikanischer Kirche, "to encourage Africans [to] discover themselves from their history and mythologies and find the meaning of their life in the light of the biblical message" (W. B. Niwagila, 67). W. Ustorf zieht daraus die Konsequenz, daß gerade angesichts der nachchristlichen Situation der Gegenwart die "Kritik der geschichtlichen Formen von Glaube und Mission selber etwas Missionarisches [hat]. Sie legt die Relativität oder die unzulässige Verengung in der Interpretation der Christuswirklichkeit bloß und verweist damit auf die eigentliche Mission, die uns nicht zur Verfügung steht (36). Eben darum aber ­ so darf man fortfahren ­ ist sie auch nicht auf die Fragwürdigkeiten einer "Imperialgeschichte" (A. Porter) festzulegen, die für viele Völker der Dritten Welt ohnehin längst durch eine neue Erfahrung von Widerstand und Befreiung abgelöst worden ist (34).

Seitens der Historiographie im weiteren Sinn ist schließlich von I. Geiss mit allem wünschenswerten Nachdruck zusammengefaßt worden, was auch für die Missionsgeschichte gelten kann: "Gibt es keine zerknirschte selbstkritische Anklage mehr, wird törichte Apologie überflüssig, und umgekehrt: Verzichtet Geschichtswissenschaft auf wohlfeile Apologie, braucht es keine moralisch billige Empörung über Fakten der Vergangenheit zu geben, die sich nachträglich nicht rückgängig machen lassen" (87).

Die fast nicht mehr überschaubare Fülle der Einzelbeiträge, die den Hauptgehalt des Bandes bilden, liefert mannigfache Proben auf das Exempel. Im einzigen Beitrag aus der frühmittelalterlichen Missionsgeschichte, den der Band enthält, zeichnet H. C. Brennecke methodisch mustergültig ein neues Bild der Germanenmission ­ frei von deutsch-christlicher Ideologisierung einerseits und nachfolgender Tabuisierung andererseits, in dem Christianisierung und Identitätsfindung der Völker korrespondieren (239 ff.). Unter den völlig veränderten Bedingungen der Neuzeit untersucht C. H. Grundmann, bewährter Experte für ärztliche Mission und heilendes Handeln, ein doch nicht gänzlich anderes Problemfeld, nun freilich in weltweiter Perspektive: Welchen Beitrag hat die Mission in diesem Bereich zu einer kulturell determinierten Überwindung von Krankheit und Leiden geleistet ­ auch und gerade da, wo man damit in der imitatio Jesu stehen wollte? (259 ff.; wieso dieser Beitrag in die Rubrik "Entstehung von Nationalkirchen" geraten ist, bleibt unklar). Nimmt man N.-P. Moritzens Schlußüberlegungen zu gegenwartsnaher Missionsgeschichtsschreibung (463 ff.) sowie A. Juncks anregende Gedanken zu kontextueller Nutzung historischer Lichtbilder (451 ff.) hinzu, so kann man sich dem Grundbestand an Einzeluntersuchungen zuwenden, der sich doch wohl am besten nach geographischen und historischen Kriterien ordnen läßt.

Für den südostasiatischen Bereich kommt zuerst K. Koschorkes Analyse der holländischen Kolonial- und katholischen Untergrundkirche im Ceylon des 17. und 18. Jh.s in Betracht ­ Paradigma einer Entwicklung, die mit dem Begriff der Kolonialmission nur ungenügend zu erfassen wäre und, wie es Koschorke plausibel macht, schon für ein so überschaubares Gebiet ein diversifiziertes "Theoriegerüst" erfordert (273 ff.). In Indien ist es nicht anders, wie C. S. Mohanavelu als Spezialist für die deutsch-indischen Beziehungen in Tamilnadu in interdisziplinärer Perspektive nachweist (149 ff., seine in Deutschland erarbeitete Dissertation über "German Tamilology", Madras 1993, ist damit natürlich nicht überflüssig geworden). Das vom Problem der Landverteilung bewegte Umfeld der Gossner-Kirche in Chota Nagpur im 19. Jh. erschließt K. Roebers fesselnde Darstellung des Wirkens des ersten Munda-Pastors N. Tuyu, die auch für die heutige Adivasi-Situation bedeutsam ist (291 ff.). Schließlich ist hier H. Rüstaus sorgfältige Neubearbeitung der Beziehungen von Ram Mohan Roy zu den Missionaren im Bengalen des frühen l9. Jh.s zu nennen (373 ff.) ­ ein offenbar unerschöpfliches Thema, dessen Bearbeitung die Vfn. auch noch nicht abgeschlossen hat. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß dabei die vollständige Auswertung des ausgedehnten Schrifttums von R. M. Roy entscheidend ist. Gewiß ist aber auch, daß frühere Interpretationsversuche (beispielsweise von Otto Wolff, in: Christus unter den Hindus, Gütersloh 1965, 10-47) unter diesem Aspekt keinen Vergleich mit der Arbeit der Vfn. aushalten (die wichtigen einschlägigen Passagen bei Wilhelm Halbfass, Indien und Europa, sollten allerdings nicht mehr nach der deutschen Fassung von 1981, sondern im revidierten englischen Original von 1988 benutzt werden).

Faszinierende Einblicke in die Konfrontation von Christen und Muslimen im philippinischen Mindanao vermittelt R. Wendt (225 ff.) in einem ebenso gründlich recherchierten wie lesbaren Essay, der in der Beschreibung des denkwürdigen Experiments einer Art von Symbiose jesuitischer Missionare, der spanischen Kolonialobrigkeit und Teilen der islamischen Bevölkerung unter der Initiative des selbsternannten Regionalherrschers P. Cuevas (gest.1904) gipfelt.

Auf gleichem Niveau erörtert G. Tiedemann das Verhalten der christlichen Missionare in Shandong im Kontext der chinesischen nationalen Revolution in den 1920er Jahren (387 ff.). Innere und äußere Spannungen deuten bereits auf künftige Destabilisierung: Die Missionare, noch immer im Vorteil durch die "Ungleichen Verträge" des 19. Jh.s, haben nach wie vor Erfolg, nicht zuletzt durch Vermittlung westlicher Bildung und kultureller Emanzipation. Aber eben die modernisierenden Impulse fördern Xenophobie und Nationalbewußtsein, bis hin zu innerkirchlicher Distanzierung von der Mission: Kang Sheng, einer der Jungrevolutionäre, hatte offenbar nicht umsonst Richard Wilhelms angesehene deutsche Schule besucht (403)! Anderer Art ist Young-Whan Parks Darstellung seiner eigenen "Koreanischen Evangelischen Heiligkeits-Kirche" (281 ff.), für die der Vf. mit gutem Grund vor allem theologische Stabilisierung erhofft.

Zwei Beiträge befassen sich mit Papua-Neuguinea und ergänzen sich dabei auf überzeugende Weise: H. Schütte beschreibt das Spannungsgefüge von traditionaler Magie, Christentum und Kolonialherrschaft, in dem die Missionare als Mittler fungieren. Dabei kann "dramatisches Aufgeben des Hergebrachten" die Gleichzeitigkeit von Vorchristlichem und Christlichem doch nicht überwinden (215 ff.). Der umfangreiche Bericht von Th. Ahrens und W.-V. Lindner über "Kirche im Spannungsfeld von Ethnizität und moderner Lebenswelt" (301 ff.) konzentriert sich auf die ekklesiologischen Konsequenzen, die in den verschiedenen Gebieten durchaus verschieden ausfallen und auch ökumenische Diversifizierung praktizierter "koinonia" mit sich bringen.

Der Berliner genius loci tritt darin besonders in Erscheinung, daß nicht weniger als neun Abhandlungen sich mit dem südlichen Afrika befassen. Der Mitherausgeber U. van der Heyden umreißt sachkundig, was die Missionsquellen gerade in diesem Bereich bedeuten, sowohl im Blick auf schon vorliegende Arbeiten als auch auf das, was noch zu erwarten ist (123 ff.). H. Heese liefert ein konkretes Muster mit besonderem Bezug auf die West Cape Province und die Cape Coloureds (105 ff.). Eine Untersuchung von G. Pakendorf weist am Beispiel von A. Kropfs Werk über das "Volk der Xosa-Kaffern" (1889) nach, daß und wie in diesem Rahmen der scheinbar objektiv anthropologisch arbeitende Missionar doch auch zum Helfer des kolonialen Systems werde konnte (161 ff.). Es kann kaum verwundern, daß in diesem Klima auch eine Begegnung oder wenigstens eine ernsthafte Beschäftigung mit der national-afrikanischen Bewegung nicht zustande kam (G. J. Jooste, 343 ff.). Die kanadische Forscherin K. Poewe ergänzt das Bild durch eine umfassend angelegte Analyse der durch die Begriffe "Volk" und "Apartheid" definierten Dialektik zwischen deutschem und burischem Nationalismus ­ eine Fundgrube von Informationen über deutsche Missionarsfamilien, aber auch über die fragwürdige Rolle eines Schriftstellers wie Hans Grimm (191 ff.).

Speziell zu dem durch die Rheinische Mission besonders geprägten Territorium Südwestafrika im 19. Jh. gehört der Beitrag von T. Dedering über Hendrik Witbooi mit dem Untertitel "Kollaboration und Widerstand" (325 ff.), in dem wohl endgültig der Nachweis geführt wird, daß Witbooi auch in seinen protonationalistischen Ideen nur dann richtig eingeschätzt wird, wenn man seine religiösen Vorstellungen den Rang läßt, den sie faktisch hatten.

Bis in die Gegenwart hinein führt H. M. Barths eingehende Untersuchung über den Missionar H. H. Vedder (1876-1972; 405 ff.), Leitfigur einer Synthese kirchlich-missionarischer und deutsch-nationaler Impulse, wie sie wohl nur in SWA entstehen konnte. Wenn man auch die afrikanischen unabhängigen Kirchen (AIC) in diesem südafrikanischen Gesamtszenarium vermissen mag, so führt doch immerhin I. Hexhams Essay über den englischen Zulu-Missionar Henry Callaway (1817-1890) zu den Ursprüngen einer Entwicklung, die erst heute ihre volle Dynamik entfaltet (439 ff.). Wichtige Beiträge über andere Teile Afrikas bieten K. Füllberg-Stolberg (über die American Presbyterian Kongo Mission in der Zeit der "Kongo-Greuel", 1890-1910), U. Luig (über die charismatisch-evangelikale Rewegung in Zambia, 351 ff.) und die slowakische Forscherin V. Pawlikowá-Vilhanowá (über die Quellen für die Uganda-Mission der Weißen Väter, 177 ff.) ­ sämtlich über den in der deutschen Missionsgeschichtsforschung gewohnten Arbeitsbereich kompetent hinausgreifend.

A. Carmel und F. Foerster, beide bekannt durch frühere Forschungen über evangelische Missionen im Heiligen Land, ergänzen sich in ihren Beiträgen aus diesem Bereich (249 ff., 89 ff.), der heute freilich überwiegend zu einer vergangenen Epoche gehört. Daß und wie auch dabei Missionsgeschichte und Ökumenismus ineinandergreifen und dadurch für die deutsche Mission ein bleibend bedeutsames, wenn auch gefährdetes Erbe erschließen, zeigt R. Pierard in einer Untersuchung, die vorhandene deutsche Ansätze zu dieser bis in die Zeit des Dritten Reichs reichenden Entwicklung aufgreift (361 ff.). Auch E. Höckners Studie über den Berliner Missionar F. Reuter (gest. 1940) und sein Wirken kann und soll in diesem Sinn nachdenklich machen (139 ff.), zugleich aber auch zu dem Umgang mit Missionsquellen anregen, den der ganze Band überzeugend vertritt.

Bedauerlich ist freilich ­ neben der Zahl der Druckfehler in einigen Einzelbeiträgen ­ das Fehlen jeglicher Register. Gleichwohl bleibt zu hoffen, daß die gesamte überaus inhaltsreiche Kollektion die über den Tag hinaus reichende Beachtung findet.