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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

497–499

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lienemann, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 225 S. 8° = Bensheimer Hefte, 75: Ökumenische Studienhefte, 3. ISBN 3-525-87162-7.

Rezensent:

Martin Honecker

Für die vom konfessionskundlichen Institut in Bensheim konzipierten ökumenischen Studienhefte hat W. Lienemann einen instruktiven Überblick über Konzeptionen ökumenischer Sozialethik verfaßt: Der Aufbau der Studienhefte gliedert sich generell in 3 Teile: A. konfessions- und kontextspezifische Positionen (28-113: "Konfessionell geprägte und kontextbedingte Gerechtigkeitskonzepte"), B. ökumenische Dialoge und Prozesse (114-189: "Ökumenische Konflikte und Klärungen") und C. vorläufige Bilanz (190-209: "Bilanz und Perspektiven"). Die drei Teile in diesem Heft sind schon vom Umfang her nicht gleichgewichtig. Literaturhinweise und Register erschließen den Band. Er gibt Anleitung für die Auseinandersetzung mit Ansätzen ökumenischer Sozialethik und vermittelt, was sehr anzuerkennen ist, Grundwissen und Grundkenntnisse. Die Reduktion der Fragestellung auf "Gerechtigkeit" im Titel ist freilich eine Verengung. Menschenrechte, Rechtsstaat, Friede, wirtschaftliche Interessen und Solidarität sind gleichfalls wichtige Stichworte und Zielvorstellungen.

Den Ausgangspunkt bildet der konziliare Prozeß des ÖRK von Vancouver 1983, der einen "Bund für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" (7) anstoßen wollte. Mit dem Leitbegriff "Gerechtigkeit" soll somit die Auseinandersetzung in der Christenheit mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Konflikten beschreiben werden. Vorangestellt ist der Darstellung kirchlicher und ökumenischer Texte ein Überblick zu "Theologische und philosophische Grundlagen" (10-16). Diese Einleitung beginnt mit der biblischen Überlieferung und stellt ihr die philosophischen Gerechtigkeitstheorien seit Platon und Aristoteles gegenüber. Als "historische Paradigmen" (17-27) werden sodann die Alte Kirche, Thomas von Aquin, die Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit in der Reformation (also die Rechtfertigungslehre) genannt. Neuzeitliche Gerechtigkeitstheorien seit der Aufklärung werden nicht behandelt. Das Fazit der Einleitung ist (a) eine Synthese aus biblisch begründetem Erbarmensrecht mit Varianten des aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffs und (b) ein Spannungsverhältnis zwischen institutionellem Rechtsschutz und austeilender, soziale Ungleichheiten korrigierender Gerechtigkeit (27). Daraus erwächst somit "die politische Aufgabe einer stets gefährdeten Integration von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit" (27). Diese Formulierung gibt sodann den Leitfaden für den gesamten folgenden Überblick ab.

In dem konfessionell geprägten Gerechtigkeitskonzept wird zunächst die römisch-katholische Soziallehre erörtert, mit der Betonung der Würde der Arbeit, der Forderung nach weltweiter Gerechtigkeit, dem Eintreten für Menschenrechte, der vorrangigen Option für die Armen, einem Blick auf den Hirtenbrief aus den USA "Economic Justice for All" 1986 als Modell für Verteilungsgerechtigkeit (45) und den Forderungen nach internationaler Solidarität in der Schuldenkrise. Die Beiträge aus deutschsprachigen evangelischen Kirchen (55 ff.) setzen danach folgende Schwerpunkte: der Rechtsstaat als Grundlage der Gerechtigkeit, das Widerstandsrecht (67), der Sozialstaat als Mittel und Weg zur Gerechtigkeit (69 ff.), Menschenrechte (73 ff.), soziale Gerechtigkeit und internationale Wirtschaftsordnung. Wenig ergiebig für sozialethische Fragestellungen sind die Beiträge aus orthodoxen Kirchen (80-92), wobei sich das ungeklärte Verhältnis von Kirche und Politik als Grundsatzproblem zeigt. Abgerundet wird die Darstellung mit Beiträgen aus englischsprachigen Kirchen und Kontexten (92 ff.): Südafrika ­ ausgesprochen ausführlich ­, die Kritik der United Church of Christ an der neoliberalen Wirtschaftspolitik unter Präsident Reagan (104 ff.), Faith in the City (Großbritannien, 109 ff.), Kamerun (111 ff.). Diese Beiträge leiten bereits zu Teil B über.

Bei den ökumenischen Texten liegt das Schwergewicht auf Konflikten um die Destruktivität der Weltwirtschaft, um Befreiungstheologie, Rassismus. Die Entwicklung wird seit Stockholm 1925 skizziert, wo sich die ökumenische Bewegung erstmals gegen liberale und sozialistische Gerechtigkeitskonzepte abgrenzte (117 ff.). Es folgen: Oxford 1937 (119-128); Amsterdam 1948 "Verantwortliche Gesellschaft" (128 ff.); Themen des sozialen Wandels und der legitimen Revolution; strukturelle Gewalt und Gerechtigkeit (139 ff.). Ein eigenes Kapitel ist dem Thema "Weltwirtschaft und Gerechtigkeit" (146-189) gewidmet, den Kontroversen um die Weltwirtschaftsordnung und die Aufgaben der Kirche dabei, um multinationale Konzerne und um das internationale Finanzsystem (164 ff.), schließlich dem Thema Gerechtigkeit im konziliaren Prozeß (181 ff.). L. äußert sich dabei immer wieder auch kritisch z. B. zur apokalyptischen Kampfperspektive bei U. Duchrow (180 f.), zur Konfliktorientierung und radikalen Postulaten in ökumenischen Texten, zu Behauptungen wie der, daß "die notleidenden Menschen überall in der Welt unsere Nachbarn sind", mit der Konsequenz einer unmöglich einzulösenden All-Verantwortung (156).

Infolge der Vielfalt der angesprochenen Themen kann die knappe Bilanz nur andeutend ausfallen. Sie geht von John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit", 1971, aus (190 f.) und bleibt, auch im Blick auf die Funktion und Rolle von Theologie und Kirche, im allgemeinen Diskurs um "Menschenrecht, Rechtsstaat, Widerstand" (194 ff.) sowie um "Gerechtigkeit und Gleichheit" (200 ff. ­ in einer Auseinandersetzung mit F. A. von Hayek) allgemein gehalten. Unter der Überschrift "Akteure der Gerechtigkeit" (206 ff.) wird sehr fragmentarisch der Kommunitarismus angesprochen. Am Ende bleibt also vieles offen.

Die weit ausgreifende Darstellung belegt nämlich einmal, welche disparaten Themen und Aufgaben unter "Gerechtigkeit" subsumiert werden können und müssen: Menschenrechte, Rechtsstaat, Widerstand, Sozialstaat, soziale Verteilung, Weltwirtschaftsordnung, revolutionäre Umgestaltung. Das Wort "Gerechtigkeit" verliert dabei allerdings seine klaren und eindeutigen Konturen. Es kann auch nicht das einzige Kriterium der Sozialethik sein: Freiheit, Friede und Gewaltverzicht, Solidarität und Ausgleich sind ebenfalls unerläßliche Maßstäbe.

Ökumenische und kirchliche Texte sind auch keineswegs durchweg präzise, gedanklich klar und konsistent, realitätsgerecht und ideologiekritisch formuliert, sondern oft auch von einem Pathos der Anklage und von utopischen Idealen getragen. Zu fragen wäre deshalb, ob nicht statt des appellativen Titels "Gerechtigkeit" die Inhaltsangabe "Ökumenische Sozialethik" oder auch "Politische Theorien in Konfessionen und Ökumene" treffender und angemessener wäre. Zum anderen zeigt gerade der Ausblick, wie umstritten in Sozialwissenschaften und politischer Theorie die Berufung auf Gerechtigkeit nach wie vor ist: Neben J. Rawls, Hayek, Robert Nozick wären das "kommunitaristische" Plädoyer für Pluralität, Kontextualität und Gleichheit zu beachten, wie beispielsweise Michael Walzer "Sphären der Gerechtigkeit" (englisch 1983): L. hat für diese notwendige Diskussion nicht nur eine auch in der Auswahl sinnvolle Einführung in Texte und Probleme einer ökumenischen Sozialethik erarbeitet, sondern er eröffnet auch anregende Perspektiven im unabgeschlossenen Diskurs um Gerechtigkeit.