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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

494–496

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Günthör, P. Anselm

Titel/Untertitel:

Anruf und Antwort. Handbuch der katholischen Moraltheologie. Der Christ –­ gerufen zum Leben. I: Allgemeine Moraltheologie.

Verlag:

Vallendar-Schönstatt: Patris 1993. 587 S. 8°. Kart. DM 64,­. ISBN 3-87620-168-3.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Dieser umfangreiche Band enthält eine traditionell angelegte Grundlegung der katholischen Moraltheologie. Zwei Fortsetzungsbände sollen auf konkrete Fragen christlicher Lebensführung eingehen. Die Trilogie stellt das Resümee der mehr als vier Jahrzehnte langen moraltheologischen Lehrtätigkeit des Vf.s dar. Der hier zu besprechende Grundlegungsband ist italienisch bereits in 6. Aufl. erschienen. Aus Sicht des Rez. ist eine kritische Würdigung dieses Werkes geboten.

Der vorliegende Band erörtert zunächst das Selbstverständnis der Moraltheologie (21-89). Die beiden Hauptteile sind dann nach dem Schema Gottes Ruf (91-347) ­ menschliche Antwort (349-553) aufgebaut. In diesen Aufriß sind Darstellungen zum Verständnis von Gesetz, Naturrecht, Gewissen, Anthropologie, Tugend, Sünde u. a. eingezeichnet. Zur Orientierung über begriffliche Differenzierungen aus der moraltheologischen Tradition, z. B. zwischen finis operis und finis operantis (382, 390) oder zwischen der sog. Tod- und Wundsünde (540), ist das Buch informativ.

Auf die evangelische Ethik richtet der Vf. immer wieder Seitenblicke. Dabei liegt ihm an Abgrenzungen. Gegen die evangelische Rechtfertigungslehre sei eine effektive Gnadenlehre zu betonen; aus katholischer Sicht sei auf habituelle Tugenden als "dauernde Verfaßtheiten des gerechtfertigten Menschen" sowie auf den verdienstvollen Wert des Handelns abzuheben (69; 352). Auch für das Kirchen- und Amtsverständnis akzentuiert der Vf. den evangelisch-katholischen Gegensatz (177) und unterstreicht das autoritative päpstliche Lehramt. Die Kirche sei "die nächstliegende Quelle und Norm des Glaubens und der Theologie (norma proxima)" (25). Das Lehramt besitze Kompetenz und Weisungsbefugnis für das natürliche Sittengesetz und für konkrete Einzelnormen des Handelns, so daß die Gläubigen (45) wie auch die Moraltheologen (49) auf steten Gehorsam verpflichtet werden.

Vor allem wenn es um den Menschen "im Innersten seiner Person" und um die "intime" personale Existenz gehe (258), etwa um das Ehe- und Familienleben, komme dem Lehramt höchste Autorität zu. Der Vf. meint, daß das Lehramt in Zukunft vermehrt auch zu Fragen der Moral mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit sprechen wird (38).

Sollte diese Prognose zutreffen und eine autoritative lehramtliche Dogmatisierung moralischer Fragen tatsächlich verstärkt einsetzen, wäre dies aus Sicht des Rez. für das Ansehen und die Überzeugungskraft der katholischen Ethik in der freiheitlichen, pluralen Gesellschaft der Gegenwart allerdings höchst verhängnisvoll. Beachtung verdient, daß das vorliegende Buch den Geltungs- und Machtanspruch der amtskirchlich vertretenen Morallehre nicht nur für Grundsatzfragen der Moral, sondern auch für Einzelnormen bzw. für das sekundäre Naturrecht, also für die konkrete alltägliche Lebensgestaltung behauptet (z.B. 42).

Ob sich ­ wie G. es herausarbeitet ­ "ausnahmslos, immer und in jedem Fall verpflichtende sekundäre naturgesetzliche Einzelnormen" wirklich von Thomas von Aquin her legitimieren lassen (240), bleibe hier dahingestellt. Der Sache nach wird die eigenverantwortliche Gewissensentscheidung von Christen durch einen solchen Normativismus jedenfalls außer Kraft gesetzt.

G. trägt seinerseits noch den Gedanken vor, daß kirchlich bekräftigte Normen von der unvollkommenen Erkenntniskraft der Menschen unter Umständen gar nicht erfaßt werden können und daher auch gar nicht unbedingt einsichtig sein müssen (184). Eine solche Aussage bedeutet freilich, daß das Lehramt bzw. die lehramtliche Moraltheologie sich einer rationalen ethischen Diskussion und einem auf Überzeugung abzielenden Dialog entziehen. Für die Moraltheologie gibt der Vf. das Anliegen einer freien argumentativen Auseinandersetzung praktisch preis. Für den Wissenschaftsanspruch der Theologie ist dies eine höchst problematische Position. Leider setzt sich das Buch überhaupt nicht damit auseinander, wie sich die Gehorsamsforderung für Moraltheologen (49) mit dem Postulat der Wissenschaftsfreiheit und mit einem freiheitlichen Diskussionsstil als heutigem wissenschaftsethischem und kulturellem Leitbild vereinbaren lassen soll.

Durchgängig betont G. seinen Gegensatz zur lehramtskritischen autonomen Moral (88 u. ö.), die innerhalb der katholischen Theologie von A. Auer, F. Böckle, W. Korff u. a. vertreten wird. Der autonomen Moraltheorie liegt an einem "theonomen" (F. Böckle), theologisch vertieften Verständnis ethischer Werte und an einer teleologischen Begründung von konkreten ethischen Urteilen, also an einzelfallbezogenen Güterabwägungen und Folgenabschätzungen. Gegen eine teleologische Urteilsbildung wendet der Vf. ein, Ethik werde hierdurch zum Kalkül degradiert; die Folgen von Handlungen seien ohnehin nicht umfassend vorauszusehen; das Innere und die Personalität, das "Gut-Sein" des handelnden Menschen bleibe ausgeklammert; teleologische Abwägungen zögen rechtliche und soziale Unsicherheiten nach sich, weil keine "in sich" sittlichen bzw. unsittlichen Handlungen mehr gelehrt würden (416ff.). Im Gegenzug beharrt der Vf. auf der Lehre vom In-sich-Sittlichen (387), auf der absoluten Verbindlichkeit auch von konkreten Einzelnormen (423 f.) und der letztlichen Unwandelbarkeit von Sittengesetz und objektiven Normen (242ff., 253, 185). Dieser metaphysisch-ontologischen Deutung von Naturgesetz und sittlichen Normen entspricht eine zur Überzeitlichkeit tendierende Anthropologie; z. B. gilt die Frau als "ganzheitlicher" und opferbereiter als der Mann (437). Materialethisch bekräftigt der Vf. das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung aus Humanae vitae (400 ff.) und subsumiert das Abtreibungsproblem ohne Erläuterung oder Differenzierung unter das Verbot des Mordes (!)(263).

Die eigene Position des Buches besteht in einer kirchlich verbürgten, naturrechtlich angelegten Lehre der objektiven Werte bzw. des absoluten Sittengesetzes. Sittliche Werte, die eine eigene "einmalige... Würde und Erhabenheit" besäßen und letztlich in Gott als dem Urgrund der Werte und des Guten verwurzelt seien, fordern dem Vf. zufolge den Menschen zur "Wertantwort" heraus (134, 253, 357). Die Sünde wird dann als Widerspruch gegen die in Gott verwurzelten objektiven Normvorgaben ausgelegt (530 f.). Weil die Normen letztlich in Gott gründen, sei ein Pflichtenkonflikt objektiv gar nicht möglich (282, 324).

Mit dieser theoretischen Bestreitung von Pflichtenkollisionen und Normenkonflikten überspielt der Vf. freilich konkrete lebensweltliche Erfahrungen. Zudem schiebt er die erkenntnistheoretische Problematik einer metaphysischen Wertlehre, die Einsicht in die historischen Einbindungen und Wandlungen naturrechtlicher normativer Aussagen und überhaupt geschichtliche und hermeneutische Aspekte der Ethik allzu rasch beiseite. Mithin bleibt festzuhalten, daß der vorliegende Band in Grundbegriffe, Einzelargumentationen und Differenzierungen herkömmlicher Moraltheologie umfassend einführt und in dieser Hinsicht von Interesse ist. Jedoch werden die überzeitliche metaphysische Wertlehre und die Deutungsmacht für sittliche Normen, die der Vf. dem Lehramt uneingeschränkt zugesteht, den Maßstäben einer freiheitlichen Diskussionskultur und einer an Überzeugung, Plausibilität und Dialogfähigkeit orientierten Ethik nicht gerecht. Indem G. immer wieder die katholische autonome Morallehre kritisiert, macht er allerdings indirekt darauf aufmerksam, daß in der katholischen Ethik selbst gewichtige Stimmen anzutreffen sind, die einen binnenkirchlichen Rückzug aus der modernen Gesellschaft und einen überdehnten lehramtlichen Machtanspruch zur Moral in Frage stellen.