Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

164 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Magonet, Jonathan u. Walter Homolka [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das jüdische Gebetbuch Hebräisch-Deutsch. Übers. von A. Böckler. 1: Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste. 2: Gebete für die Hohen Feiertage.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 632 S. u. 736 S. 8. Geb. DM 148,-. ISBN 3-579-02216-4.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Beginnen muß die Rezension mit einer Einschränkung, die eigentlich schon der Titel des Buchs enthalten sollte: Es handelt sich um ein Gebetbuch der jüdischen Reformbewegung, und natürlich relativiert das seinen Anspruch, "eine neue Liturgie für das deutsche Judentum" (Vorwort, Bd. I, 12) vorzustellen. Einen breiteren Interessentenkreis sucht es gleichwohl anzusprechen; das lassen schon die komfortable Ausstattung und die Publikation in einem eher für christlich-theologische Literatur bekannten Verlag erkennen. Ohne mit dem Angebot einer "besondere(n) Form des jüdischen Gottesdienstes ... die Legitimität anderer Formen in Frage stellen" zu wollen, empfiehlt es sein liturgisches Material doch ausdrücklich "den verschiedenen Gemeinden" in Deutschland zur freien Verwendung (I, 14).

Zugrunde liegt ein britisches Vorbild, die drei Bände der Forms of Prayer for Jewish Worship der Reform Synagogues of Great Britain (1977 ff.). Ihnen sind sowohl die Textformen der hebräischen und aramäischen Traditionsstücke entnommen, die zusammen mit ihren synoptisch gegenübergestellten deutschen Übersetzungen den Grundstock bilden, als auch zahlreiche moderne Texte für Gebet, Besinnung und Studium, die mit dem traditionellen Stoff abwechseln und meist nur auf deutsch, selten auch auf hebräisch geboten werden.

Der erste Band umfaßt Gebete für Schabbat und Wochentage, Zusätze für besondere Tage, wozu neben Purim und Chanukka auch das Gedenken der Scho’a und der israelische Unabhängigkeitstag zählen, Gebete für die Pilgerfeste Pessach, Schawuot und Sukkot, endlich Gebete und Lobsprüche für Anlässe wie Hochzeit, Bar- und Bat-Mizwa-Feier, Mahlzeit, Krankheit, Trauer, darunter auch Gebete "vor einer Ausschußsitzung", "bei interreligiösen Begegnungen" und "für internationale Verständigung". Im zweiten Band folgen Liturgien und Besinnungstexte zu Rosch Ha-Schana und, als umfangreichstes Kapitel, zu Jom Kippur.

Was das Buch vor allem auszeichnet, ist das in seinem progressiven Ansatz begründete, an seiner Rezeption der klassischen Gebete fast noch deutlicher als an den modernen Beigaben zutage tretende Bemühen, die liturgische Tradition des Judentums mit der Rationalität, Emotionalität und Sprache einer sich als zeitgemäß verstehenden Frömmigkeit zu verbinden. Das bedeutet, daß manches aus dem überlieferten Vorstellungsgut als antiquiert zurückgedrängt wird: "die Auferstehung der Toten, die Wiedererrichtung des Tempels und seines Opferkultes ... Nationalismus und Partikularismus" (I, 12; auch der Engelglaube wird hier genannt, auf das Schalom alechem zur Begrüßung der Schabbatengel wird aber nicht verzichtet, s. I, 20 ff.). Hinzu kommt das Erfordernis eines "nicht-exklusiven Sprachstil(s)", so daß etwa das Tetragramm bevorzugt mit dem "für verschiedene Gottesvorstellungen offen(en)" Wort Gott wiedergegeben wird (I, 13).

Eher selten werden traditionelle Textelemente ganz ausgelassen, wie die Motive der Vergeltung an den Ägyptern in der G’ulla, der Benediktion nach dem Sch’ma (I, 44 f.), oder der Schluß des Psalms 143 (I, 226 ff.). Häufiger werden problematische Formulierungen durch deutende Paraphrasen im parallelen deutschen Text richtiggestellt oder der hebräische Wortlaut selbst einer Korrektur unterzogen. Die theologische Tragweite ist im einzelnen unterschiedlich: Im Alenu wird "vor dem König der Könige der Könige" zeitgemäßer wiedergegeben mit: "in der Gegenwart des allmächtigen Gottes, Gott regiert über alle Herrschenden in der Welt" (I, 119), und die "Greuel" und "Götzen", um deren Ausrottung gebetet wird, sind modern "die Anbetung des Geldes" und "Vorurteile und Aberglaube" (ebd.).

Die erste der 18 Benediktionen der Amida, "Gott aller Generationen" betitelt, wird wahlweise in der herkömmlichen und in einer inklusiven Form geboten, die neben dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs auch den Gott Saras, Rebekkas, Rahels und Leas (allerdings nicht Bilhas und Silpas) mitbedenkt und mit "Schutzschild Abrahams und Saras" endet (I, 174 f. u. ö.). In der zweiten Benediktion wird nicht wörtlich: "der du die Toten lebendig machst", sondern frei übersetzt: "du schenkst Leben angesichts des Todes" (I, 175). Die zwölfte Benediktion, die als Birkat ham-Minim wegen ihres brisanten Inhalts ohnehin im Laufe der Jahrhunderte starker Veränderung unterworfen war (vgl. I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 51), verwendet statt des personalen "malschinim" ("Verleumder"), wie es andere moderne Siddurim kennen, das abstrakte "malschinut" ("Verleumdung"), und ähnlich werden weitere personale Substantive ersetzt (I, 180 f.).

Die markanteste Korrektur hat, was nicht überrascht, das Kol Nidre des Versöhnungstages erfahren, jene vorsorgliche Annullierung künftiger unbedachter Gelübde gegen Gott, die jahrhundertelang eine willkommene Zielscheibe antijüdischer Polemik war. Der traditionelle aramäische Text wird beibehalten, doch die deutsche Paraphrase stellt klar: "Alle Versprechen, die wir unseren Mitmenschen gemacht haben, bleiben erhalten. Möge Gott uns aber von den leeren Versprechungen freisprechen, die wir in unserer Dummheit Gott gegenüber machen" (II, 289). Eine wörtliche Übersetzung samt Erläuterungen folgt im Anhang. Zugleich wird eine alternative Version zur Auswahl gestellt, die im Gegenteil gerade die Gültigkeit rechter Gelübde betont: "... alle Gelübde, die sie schwören werden, um von ganzem Herzen zu dir zurückzukehren und um in den Wegen deiner Thora zu gehen ..., alle diese Gelübde mögen zu dir gelangen und vor dich kommen ..." (ebd.).

Wie sich mit der Tradition die Impulse der Moderne verbinden, wird besonders an der Gestaltung der Jom-Kippur-Liturgie deutlich. Einleitungen des Herausgebers deuten die fünf Einzelgottesdienste des Versöhnungstages je als Stationen einer Reise des einzelnen und Israels "zu dem Ort, wo unser Schatz zu finden ist, und zurück in die Alltagswelt" (II, 283). Dementsprechend sind die Meditationstexte ausgewählt, sie handeln vom Aufbruch zur Suche nach Gott, dem besonderen Auftrag Israels, von Fassungslosigkeit und Gottvertrauen angesichts des Leides der Scho’a, von der Bereitschaft zu verantwortlichem Eintreten für Schöpfung und Mitmensch, und endlich dem beruhigten Hinter-sich-Lassen des Jom Kippur. Die anthologische Konzeption verhindert theologische Einseitigkeit; man liest von dem Menschen, der im Augenblick des Zornes über sich selbst in seinem Innersten etwas spürt, was "vielleicht ... Gott" ist (II, 333, N. Ginzburg), ebenso wie von Gott, der im Monat Elul seinen streng bewachten Palast verläßt, um nach den Menschen zu suchen (II, 14, chassidisch; vgl. konstrastiv II, 690 f., F. Kafka); man vernimmt den Ruf des nach Gott Verlangenden, der, seiner guten Werke entblößt sich sehend, allein auf die bergende Gerechtigkeit Gottes traut (II, 320 ff., Jehuda ha-Levi; dazu II, 723, F. Rosenzweig), ebenso wie das Gebet der KZ-Insassin, Gott möge die Frucht, die die Gequälten durch ihr Leiden bringen, zur Vergebung für ihre Peiniger werden lassen (II, 531).

Was den akademischen Nutzen angeht, so ist dieses Gebetbuch natürlich, ungeachtet seiner übersichtlichen Anlage und seiner informativen Appendizes, nicht als wissenschaftliche Quellensammlung konzipiert. Um so größeres Interesse verdient es jedoch als Ausdruck einer eigenen, originären Ausprägung moderner jüdischer - und überhaupt: moderner - Spiritualität. Es stellt damit ein liturgiegeschichtliches Monument dar.