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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

485 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bieler, Martin

Titel/Untertitel:

Befreiung der Freiheit. Zur Theologie der stellvertretenden Sühne.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 452 S. 8°. Kart. DM 68,­. ISBN 3-451-26124-3.

Rezensent:

Gunther Wenz

"Cur deus aliter hominem salvare non potuit" hatte einst schon Boso Anselm von Canterbury gefragt ­ "warum eigentlich konnte Gott den Menschen nicht auf andere Weise erretten als durch den Tod seines Sohnes Jesus Christus?" Ein nach eigenem Bekunden "Gottvergifteter" unserer Tage ­ Tilman Moser ­ hat diese Frage dem christlichen Bewußtsein erneut eingeschärft, indem er das Opfer am Kreuz ebenso schlicht wie ergreifend eine göttliche Grausamkeit nannte. Angesichts solcher und vergleichbarer Infragestellungen, wie sie in Geschichte und Gegenwart begegnen, zu einem vertieften Verständnis des Kreuzes als stellvertretender Sühne zu gelangen, ist das erklärte Ziel der Arbeit von B., die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern im WS 1994/95 als Habilitationsschrift angenommen wurde. "Wenn ’Stellvertretung’ und ’Sühne’ nicht durch einen Paradigmenwechsel ersetzt werden können, ohne das Christliche in seiner Substanz aufzulösen, statt es einem veränderten Verstehenshorizont anzupassen, dann bleibt", so B., "nur der Weg des tieferen Verstehens" (17).

Ihren Ausgang nimmt die Untersuchung bei dem Problem der Erkenntnis der Versöhnung (21-107). Im Anschluß an Karl Barth und unter Bezugnahme auf Hans Urs von Balthasar wird gezeigt, daß und wie sich das Versöhnungsgeschehen als Offenbarung des dreieinigen Gottes erschließt. Der in Jesus Christus, dem auferstandenen Gekreuzigten, in der Kraft des Heiligen Geistes als Vater offenbare Gott ist es, welcher als freies Subjekt der Versöhnung fungiert, wohingegen die Freiheit des postlapsarischen Menschen nach Maßgabe der eigens thematisierten Lehre vom peccatum originale lediglich als, wie es im Titel heißt, zu befreiende in Betracht kommt. Ein soteriologisches Restvermögen, sich selbst zu seinem Heil zu bestimmen, wird dem Menschen nach dem Fall nicht nur nicht zuerkannt, es ist im Gegenteil so, daß die Behauptung eines solches Vermögens als Inbegriff des Verkehrten beurteilt wird. Zwar ist die Sünde nicht die Substanz des gefallenen Menschen, doch läßt sich dessen faktische Verfassung vom sündigen Unwesen anthropologisch gleichwohl nicht scheiden. Um eine solche Scheidung inkommensurabler Art zu bewerkstelligen und Untat und Übeltäter zu trennen, muß Gott selbst auf den Plan treten und in Jesus Christus kraft seines Heiligen Geistes stellvertretende Sühne in der ihrerseits unvergleichlichen Weise ersetzenden Tuns leisten.

Was damit näherhin gesagt ist, erörtert B. in einem zweiten Teil seiner Untersuchung (106-229) unter den Gesichtspunkten von Gericht und Sühne, die nach seinem zutreffenden Urteil nicht am Rande, sondern im Zentrum der biblischen Botschaft stehen. Die offenbarungstheologische Grundannahme lautet dabei wie folgt: "Durch die Weigerung des Menschen gegenüber Gott, dessen positiver Intention in seiner Gabe zu entsprechen, sich als Kind Gottes zu verhalten und mit dem Sohn Gottes übereinzustimmen, zieht der Mensch als Verletzer des Rechtes Gottes dessen Gericht und Zorn auf sich" (107). Sühne ist demnach theologisch alternativlos und notwendig, wobei im Anklang an eine Formulierung Eberhard Jüngels hinzuzufügen ist, daß der Begriff der Sühne gerade darauf bezogen ist, was der Mensch als Mensch nicht wiedergutzumachen vermag und Gott als Gott nicht gut sein lassen kann. Was nottut, ist daher Stellvertretung durch den Gottmenschen.

Dem theanthropologischen Begriff des Stellvertreters, welcher Jesus Christus in der Einheit seiner Person und seines Werkes ist, widmet B. den dritten Teil (230-317) seines Werkes. Bestimmend ist abermals der trinitarische Kontext, ohne welchen die Christologie ihren Bestimmungsgrund verlieren müßte. Bei der Entfaltung des Zusammenhangs von Trinitätstheologie und christlicher Stellvertretungslehre nimmt B. neben Barth insonderheit auf die bemerkenswerten, bislang m. E. zu wenig gewürdigten einschlägigen Arbeiten von N. Hoffmann Bezug (Sühne. Zur Theologie der Stellvertretung, Einsiedeln 1981; Kreuz und Trinität. Zur Theologie der Sühne, Einsiedeln 1982; "Stellvertretung", Grundgestalt und Mitte des Mysteriums. Ein Versuch trinitätstheologischer Begründung christlicher Sühne, in: MThZ 30, 1979, 161-191).

Vermißt habe ich dagegen eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Werk Heinrich Vogels, obwohl nachgerade er es war, der "das Sätzlein: ’Er trat an unsere Stelle!’ (zum) Signum der ganzen Christologie" erklärt (H. Vogel, Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Berlin 1951, 721) und einen der eindrucksvollsten trinitätstheologischen Strukturierungsversuche des Stellvertretungsbegriffs unternommen hat, der sich von den Barthschen in lehrreicher und durchaus produktiver Weise unterscheidet.

Der Ertrag der Arbeit von B. ist im vierten und abschließenden Abschnitt (318-423) enthalten, der die Überschrift "Stellvertretende Sühne" trägt. In konstruktiver Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin und Martin Luther sowie mit Barth und Balthasar entwickelt B. darin seine bereits erwähnte Grundthese, daß Christi Kreuz als stellvertretende Sühne stricte dictu als ersetzendes Tun verstanden werden müsse. Eben dies hatte, wie B. ausdrücklich vermerkt, bereits H. Gollwitzer in Auseinandersetzung mit D. Sölle geltend gemacht. Die Exklusivität des der Singularität Jesu Christi vorbehaltenen theologischen Begriffs stellvertretender Sühne stellt nach B. indes keinen Gegensatz dar zu deren inklusiver Kraft, fungiert vielmehr als Ermöglichungs- und Realisierungsgrund von Inklusivität. Auf diesen Zusammenhang sind die Abschlußüberlegungen zu trinitarischer Inklusion und menschlicher Freiheit bezogen. "Stellvertretende Sühne", so resümiert B., "ist der Einschluß des Menschen ins innertrinitarische Leben Gottes, denn stellvertretende Sühne ist ein Ereignis zwischen Vater und Sohn in der Einheit des Geistes". Weil dieses Ereignis ein Ereignis der Liebe ist, ist stellvertretende Sühne nicht nur durch Liebe motiviert, sondern Vollzug der Liebe selbst. "Weil die Liebe den Liebenden in den Geliebten umwandelt, kann Christus sich mit uns identifizieren, sich unsere Situation zu eigen machen, das Kreuz auf sich nehmen und in diesem Sinne die Sünde ’wiederholen’. Weil dabei der Liebende der Sünde nicht verfällt, gleicht er gleichzeitig den Geliebten an sich an..., so daß Christus uns grundlegend verändert ­ vorgängig unserer Entscheidung. Die Versöhnung ist entsprechend als recreatio zu fassen. Dies ist der eigentliche Sinn der stellvertretenden Sühne, die von uns ratifiziert werden muß.

Der Ernst dieser Ratifikation verbietet eine Lehre von der Allversöhnung. Auf der anderen Seite macht die Absolutheit der nicht mehr rückgängig zu machenden Liebe Gottes zu allen Menschen die Hoffnung auf die Allversöhnung zur Pflicht. Die inklusive Kraft stellvertretender Sühne nötigt zur Anerkennung der Wirksamkeit menschlicher Vermittlung der Gnade Gottes, so daß so etwas wie stellvertretende Sühne als Liebe analog auch von Menschen ausgeübt werden kann. Allerdings gründet diese gänzlich im streng exklusiven Kreuz Christi" (422 f.).

Daß die zitierten Schlußsätze nicht nur Anlaß zu weiteren ­ etwa den Ratifikationsbegriff oder den Analogiegedanken betreffenden ­ Fragen geben, sondern zu solchen Fragen förmlich nötigen, ist offenkundig, spricht aber nicht zwangsläufig gegen den Ertrag der Arbeit, zumal da der argumentative Prozeß, aus dem dieser Ertrag resultiert, in sich stimmig und konsistent ist. Mag der gepflegte Stil gelegentlich auch als ein wenig preziös und mancher Exkurs als eher abwegig erscheinen, insgesamt ist anzuerkennen: B.s versöhnungstheologische Studie gibt zu denken. Mit Boso zu reden: "Ita est. Negare nequeo".