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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

481–483

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nobbe, Frank

Titel/Untertitel:

Kants Frage nach dem Menschen. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft als transzendentale Anthropologie.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 308 S. 8° = Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik, 8. Kart. DM 89,­. ISBN 3-631-48085-7.

Rezensent:

Angelica Baum

Frank Nobbe deutet in der vorliegenden Studie Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft als Beitrag zu einem "erweiterten Begriff vom Menschen" (11). Er stellt ihr die weitreichende These voran, daß in der Frage nach dem Menschen "das gesamte Programm der Transzendentalphilosophie" Kants gipfelt (14). Die anthropologische Relevanz der Ästhetik wird im Ausgang des Begriffs der Individualität, wie er bei Leibniz angelegt ist, sowie im Rekurs auf Baumgartens Thematisierung der Sinnlichkeit geltend gemacht. Die These ist weiter abgestützt durch den Bezug auf die deutsche Popularästhetik und die Anthropologie Herders.

Das Interesse des Autors gilt der Vermittlungsfunktion der Ästhetik für die anthropologische Begründung der Einheit des Menschen. Die Ästhetik Kants läßt sich, wie die Arbeit zeigen will, im Ausgang von drei anthropologischen Fragestellungen, die schon in den ersten beiden Kritiken angelegt sind, betrachten. Es sind dies: die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit, die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich, sowie das Problem des Übergangs zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.

N. deutet, auf Leibniz zurückgreifend, die Kritik der ästhetischen Urteilskraft als eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, die über die Subsumptionslogik hinausweist und damit eine Koinzidenz von Allgemeinem und Besonderem in Aussicht stellt. Diese Koinzidenz wird an den Grundbegriffen der Kantschen Ästhetik deutlich gemacht. Kant begründet, wie N. weiter geltend macht, die Struktur der Individualität als Koinzidenz von Allgemeinem und Besonderem im Verweis auf das Übersinnliche. Aus dem Bezug auf das Übersinnliche läßt sich zwar keine anthropologische Doktrin oder "Metaphysik des Menschen" ableiten, jedoch die Möglichkeit einer transzendentalen Anthropologie aufzeigen. Es geht damit in Kants Kritik der Urteilskraft "um Hinweise auf Bereiche des Denkens, denen sich die ersten beiden Kritiken noch verschlossen hatten" (20).

Mit der Konzentration auf die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist die Bedeutung von Leibniz für die Herausbildung der Ästhetik geltend gemacht. Die Bedeutung von Leibniz läßt sich aber auch über den Substanzbegiff in der Metaphysik erschließen. Indem N. als Vorbild substanzieller Einheit den Begriff des Ich einsetzt, versucht er, die Monade als "ichhafte (seelenanaloge) Einheit", bzw. als "ichhafte Individualität" begreifbar zu machen (43). Ziel dieser Deutung ist es, eine "direkte" Verbindung zwischen Leibniz’ Metaphysik und Kants dritter Kritik sicherzustellen (23).

Auch die Geschmacksdebatten der Aufklärung sind unter dem Gesichtspunkt einer Neubestimmung des Verhältnissses von Allgemeinem und Besonderem betrachtet. Mit Thomasius’ Begriff des "Laienurteils" ist ein politisch-gesellschaftlicher Horizont eröffnet, unter welchem auch das Bildungsideal in der deutschen Popularphilosophie besehen werden kann. Es fragt sich aber, ob sich der gesellschaftliche oder politische Hintergrund der Geschmackslehren der Aufklärung ohne Bezug auf die englischen und französischen Debatten sinnvoll behandeln läßt.

N. führt, wiewohl er den Einwand Kants gegen eine logische Fundierung der Sinnlichkeit zur Kenntnis nimmt, Baumgartens Formulierung des Geschmacks als eines "iudicium sensuum" als "Ursprung" von Kants Begriffs der reflektierenden Urteilskraft an (49). Baumgarten gilt als Begründer der neuen philosophischen Disziplin der Ästhetik, aber auch als Schöpfer eines neuen Menschenbildes, des "homo aestheticus". Indem er ­ so N. ­ "systematischen Anspruch und anthropologischen Gehalt" verbindet, gelangt er im Vorfeld von Kant zu einem erweiterten Begriff vom Menschen (96).

Die Deutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft als transzendentaler Anthropologie ruht auf drei Pfeilern. N. geht davon aus, daß die Heterogenität von Allgemeinem und Besonderem eine Dichotomie von Verstand und Sinnlichkeit bedingt (136). Er sieht die Leistung Kants darin, daß er mit der reflektierenden ­ nicht subsumierenden ­ Urteilskraft einen neuen Zugang zu diesem Problem gewinnt, indem sie das Fundament für die "Idee der vernünftigen Sinnlichkeit" bildet (138). N. unternimmt es weiter, auf der Basis der Kantschen Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich zu einem Begriff der Einheit des Menschen zu kommen. Durch den Verweis darauf, daß der Mensch als Einheit immer schon "existiert", soll Individualität bei Kant als "existierende Transzendentalität" gedeutet werden (142). Zuletzt wird das Problem des Übergangs zwischen Freiheit und Natur im Verweis auf das Übersinnliche betrachtet. N. hält überzeugend der Formulierung des Übersinnlichen als "Idee der Sittlichkeit" im § 59 Kants eigene Bestimmung des Übersinnlichen als "etwas im Subjecte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit ist" (KU B 258) entgegen.

Die eigentliche Errungenschaft der Kritik der ästhetischen Urteilskraft besteht, so faßt N. das Resultat seiner Untersuchung zusammen, darin, daß Kant hier einen Begriff von Individualität gewinnt, der seinen Grund im Übersinnlichen hat. In einem solchen Begriff der Individualität liegt aber die Möglichkeit beschlossen, daß "das Besondere der Sinnlichkeit und das Allgemeine des Sittengesetzes sich inkorporieren lassen" (282). Damit ist eine Beziehung zwischen Ästhetik und Moral angedeutet, die über Kant hinaus auf Schiller verweist. Kants Begriff der Individualität bildet, so besehen, nicht nur den Schlüssel zur Interpretation der KU, sondern auch zu einer "verborgenen Anthropologie" (293).

N.s Vorschlag, die Kritik der ästhetischen Urteilskraft als transzendentale Anthropologie zu lesen, verdient Beachtung. Wenn sich auch die starke Gewichtung der Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, sowie die Fokussierung auf die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit für die Deutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft als problematisch erweisen, überzeugt, gerade im Blick auf die bei Kant angelegte Spannung zwischen Ästhetik und Ethik, der Versuch, die systematische Forderung einer Überbrückung der Kluft zwischen Natur und Freiheit als transzendental-anthropologisches Anliegen zu formulieren.