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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

477–479

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Cain, Seymour

Titel/Untertitel:

Gabriel Marcel’s Theory of Religious Experience.

Verlag:

New York-Washington-Baltimore-San Francisco-Bern-Frankfurt/M.-Berlin-Vienna-Paris: Lang 1995. 205 S. gr.8° = American University Studies; Series VII, Theology and Religion, 182. geb. DM 64,­. ISBN 0-8204-2595-8.

Rezensent:

Michael Ulrich

Bereits vor drei Jahren konnte in dieser Zeitschrift auf eine neue deutschsprachige Werkauswahl von Marcel hingewiesen werden, ThLZ 118, 1993, 51-54, die in drei Bänden von P. Grotzer und S. Foelz, Paderborn: Schöningh 1992, herausgegeben worden ist. Manches dort Gesagte zur Person und zum Werk Marcels braucht hier nicht wiederholt zu werden.

Seymour Cain kennt G. M. aus persönlicher Begegnung und brieflicher Korrespondenz. Sein Zugang zu G. M. war die Lektüre von Homo viator. Nach seinem eigenen Zeugnis hat sie ihm geholfen, einen Weg aus Unfreiheit und Dunkelheit zu finden. Bereits 1963 hat Cain erste Ausführungen über die Bedeutung G. M.s veröffentlicht.

Warum sind die Gedanken von G. M. für uns heute so wichtig? Von besonderem Wert ist das Zeugnis eines Menschen, der nicht bereits als Kind in das Leben des christlichen Glaubens hineinwuchs, sondern erst als Erwachsener oder auf der Höhe seines Lebens einen Zugang zu diesem Weg fand. So jemand bringt ein Stück neue Welt in die Christenheit hinein und kann vielen Zeitgenossen einen Weg dorthin bahnen, wo es bisher als ausweglos erschien. Beispiele hierfür sind: Paulus von Tarsos, Augustinus von Hippo, Blaise Pascal aus Paris, John Henry Newman aus Birmingham und auch Gabriel Marcel aus dem Paris unserer Zeit. Der zuletzt Genannte unterscheidet sich jedoch von den vorher Aufgezählten dadurch, daß er zwar auch wie sie sich erst als Erwachsener zu einem Glauben an Gott durch Jesus Christus bekehrte, aber nicht wie sie Theologe oder christlicher Schriftsteller wurde. Er blieb Philosoph, nannte sein Philosophieren nicht "Christliche Philosophie", auch lehnte er es später ab, daß man ihn als "christlichen Existentialisten" bezeichnete, um ihn von J. P. Sartre zu unterscheiden.

Er wollte "Philosoph der Schwelle" sein, auf der Schwelle zum Christentum, um allen Menschen nahe zu bleiben. Er sprach und schrieb von seiner Existenz, seiner konkreten Situation und blendete dabei keine Erfahrungen aus, aber er verkürzt sie auch nicht auf oberflächliche Eindrücke, sondern nahm sie in ihrem vollen Umfang auf, er bemühte sich, "der menschlichen Erfahrung ihr volles ontologisches Gewicht wiederzugeben" (Tagebuch 8. 11. 1932). Jedoch bediente er sich nicht der überlieferten binnenchristlichen theologischen Fachsprache. Trotzdem finden wir in seinen Überlegungen viele Ausdrücke, die uns im Munde eines Philosophen erstaunen lassen. Deshalb ist es erfreulich, daß nach der "Marcel-Welle" der 60er Jahre wieder eine Abhandlung über diesen wegweisenden Denker für unsere Zeit erschienen ist.

Cain wendet sich in seiner Monographie G. M.s Theorie der religiösen Erfahrung zu, weil er der Meinung ist, sie sei der kürzeste und anschaulichste Weg zum Herzen des Marcelschen Denkens (Vorwort). Um das zu erreichen, begleitet er M. auf seinem denkerischen Weg: im 1. Kap. beim Suchen im Metaphysischen Tagebuch (1914-23) anhand der Grundprinzipien: Teilhabe, Empfindung und Leib, Existenz und Objektivität; und bei der religiösen Erfahrung: Du, Gebet, Prüfung, Ahnung (Parapsychologisches). Das 2. Kap. nennt er "Am Angelpunkt" und beschreibt den Weg von G. M.s Tagebuch von 1928-34: Sein: Gedanke und Existenz, ontologisches Verlangen (Exigenz) und Geheimnis, Haben und Sein; ontologische Erfahrung: Verfügbarkeit, Hoffnung und Verzweiflung; Engagement: Treue und Zeugnis, Glaube und Wirklichkeit. Das 3. Kap. trägt die Überschrift "Durchbruch". In ihm beschreibt er den Weg von 1935-44: Menschliche Existenz: Inkarniertes Sein, Sein in der Situation, Sein auf dem Wege, Sein als Person; existentielle Erfahrung: schöpferische Treue, Phänomenologie der Hoffnung; Naturale Frömmigkeit: familienhafte Bindung und schöpferische Vaterschaft, kosmische Zusammengehörigkeit und orphische Verwandlung.

Im 4. Kap. beschreibt er unter der Überschrift "Der phänomenologische Weg" (1949-1950) die Gifford Lectures von G. M.: Was bin ich?, Mein Leben, Sein als Intersubjektivität, Glaube und Wirklichkeit, der religiöse Akt. Das 5. Kap. faßt zusammen: G. M.s Theorie der religiösen Erfahrung.

Nach all dieser positiven Würdigung, die sicherlich noch erweitert werden könnte und müßte, möchte ich aber auch versuchen, eine Frage anzumelden: Wenn Cain der Überzeugung ist, durch die Darstellung der Theorie der religiösen Erfahrung "den kürzesten und anschaulichsten Weg zum Herzen des Marcelschen Denkens" gefunden zu haben, ist das nicht eine innerreligiöse Verengung des Horizontes eines Mannes, der bewußt auf der "Schwelle" bleiben wollte, um allen heutigen suchenden Menschen nahe zu bleiben? Ist es nicht eine Gefahr, G. M. für innerkirchliche Apologetik zu vereinnahmen?

Ich wünschte zur Weiterführung und Ergänzung der Arbeit von Cain Ausführungen, die im Sinne von G. M. deutlich machen, wie nahe "weltliche" Überlegungen in der Situation der heutigen Menschheit christlichen Überzeugungen sein können und wie dicht sie heranführen können an Fragen, auf die die Offenbarung Gottes in der jüdisch-christlichen Tradition uns Antworten anbietet.