Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

476 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Adriaanse, Henrik Johan

Titel/Untertitel:

Vom Christentum aus. Aufsätze und Vorträge zur Religionsphilosophie.

Verlag:

Kampen: Kok Pharos 1995. V, 322 S. gr.8° = Studies in Philosophical Theology, 13. dfl 79,90. ISBN 90-390-0207X.

Rezensent:

Falk Wagner

H. J. Adriaanse, der in Leiden Religionsphilosophie, Ethik und theologische Enzyklopädie lehrt, hat in diesem Buch 12 Aufsätze und 4 Vorträge zusammengestellt, die zunächst vorwiegend in holländischer oder in englischer Sprache erschienen waren. Sie werden in der "Einführung" (1-9) als Beiträge zu einer kritischen Religionsphilosophie vorgestellt. Der Vf. hebt zu Recht hervor, daß die am Ende des 18. Jh.s entstandene Disziplin der Religionsphilosophie aus der Ersetzung des destruierten Erkenntnisanspruchs der natürlich-philosophischen Theologie hervorgegangen sei. Gleichwohl wird die Religionsphilosophie den langen Schatten der entweder endgültig negierten oder immer wieder affirmierten philosophisch-natürlichen Theologie nicht los. Daher sieht sich die Religionsphilosophie einerseits nicht nur dem "Metaphysikverdacht" (3), sondern auch dem Vorwurf ausgesetzt, Apologetik im Interesse einer positiven Theologentheologie zu betreiben. Andererseits wird sie jedoch verdächtigt, mit der philosophischen Theologie auch den Wahrheitsanspruch des Gottesgedankens zu verabschieden, so daß sie die Praxis gelebter Religion durch ein abstraktes Vernunftkonstrukt ersetze. Der Vf. will diesen Vorwürfen auf dem Weg phänomenologisch orientierter Beschreibungen entgegentreten. Dieser Zielsetzung entspricht auch der Titel der Aufsatzsammlung: Die aus der Ersetzung der natürlichen Theologie hervorgehende Religionsphilosophie emanzipiert sich zwar auch von der Positivität des Christentums; doch zugleich ist nicht zu übersehen, daß sie auch als "eine postchristliche Disziplin" (8) mit dem Christentum in kritisch-hermeneutischer Weise verbunden bleibt.

Der Vf. gliedert seine Aufsätze nach vier Hauptgesichtspunkten. Unter dem Titel "Religion" behandelt er im I. Teil (11-93) Religion als eine personale und soziale "Lebensform, für die die Beziehung zu Gott oder Göttern wesentlich ist" (20). Dabei kommen Probleme zur Sprache, die mit dem nicht verallgemeinerbaren Bedürfnis nach Religion (13-28), mit dem epistemischen Verständnis des Glaubens "zwischen Wahrnehmung und Wahn" (29-45), mit der Sinnsuche moderner Individualität (47-67), mit dem Verhältnis von Alltagserfahrung und religiöser Erfahrung (69-79) und mit den kognitiven Defiziten des als "unglückliches Bewußtsein" (Hegel) erscheinenden christlich-religiösen Glaubens (81-93) zusammenhängen. Auf diese Weise macht der Vf. deutlich, daß Religion in der modernen Gesellschaft auf Probleme konzentriert ist, die der personalen und sozialen Selbstthematisierung menschlicher Individualität dienen.

Diesem modernen Religionsverständnis weiß sich der Vf. auch dann verpflichtet, wenn er im II. Teil (95-170) sein Verständnis von "Theologie" skizziert. Auf dem Hintergrund des "abendländischen Rationalismus" (104) versucht er, dem "ideologiekritische(n) Potential der Theologie" (109) in selbstkritischer Absicht Rechnung zu tragen (97-109). Doch versteht er die ihres wissenschaftlichen Anspruchs entkleidete "nicht-klassische" Theologie als Religionstheologie oder Religionswissenschaft, die "den anderen Kulturwissenschaften zu vergleichen" (118) sei (11-119). Die auf "Lebensformen und Sprachspiele" religiöser Glaubens-"Praxen" (131) bezogene Theologie kann weder ihren vom Glaubensvollzug unterschiedenen rationalen Begründungsanspruch argumentativ einlösen (121-134), noch ist sie in der Lage, den Anspruch auf "das suprarational Irrationale" (152) rational zu explizieren (135-153). Folglich kommt auch die zum Scheitern verurteilte "Theodizee" (155-170) über einen "Hinweis auf Gott" (169) nicht hinaus. So muß sich überdies die "Religionsphilosophie", deren expliziter Thematisierung der III. Teil (171-216) gewidmet ist, mit ihrer Stellung "zwischen Wissenschaft und Dichtung" (173-184) bescheiden.

Dieser begrenzte Geltungsanspruch der Religionsphilosophie läßt sich auch nicht, wie der Vf. anhand "Rosenzweigs Offenbarungsverständnis" (185-216) verdeutlicht, durch eine "Philosophie der Offenbarung" überbieten. So laufen die Überlegungen des Vf.s im IV. Teil (217-309), der auf das Thema "Gott" zielt, auf "eine Religion ohne Theologie" (234) hinaus, so daß sich ein religionsphilosophisches Denken angesichts religionskritischer Destruktionen des Gottesgedankens (219-236) mit einem "unaufhebbar zweideutigen Hinweis" auf "Spuren" Gottes begnügen muß. Der zusammengebrochene Theismus (237-264) kann daher nur so beerbt werden, daß die rational und erkenntnistheoretisch nicht beweisbare Rede von Gott innerhalb der Lebensformen positiver Religionen (265-285) aufgesucht und hermeneutisch interpretiert wird.

Daher unterscheidet der Vf. zwischen einer kirchlich orientierten bekennenden und einer akademisch geleiteten philosophischen Theologie. Doch relativiert er diese Unterscheidung dadurch, daß er "die Frage nach der Referentialität der Rede von Gott" explizit aufwirft (287-308). Der Ausdruck ’Gott’ läßt sich nur innerhalb des lebensweltlichen Kontextes des religiösen Gottesbewußtseins verwenden. Ein möglicher Sinn des Ausdrucks ’Gott’ kann "dann nur in Beziehung auf bestimmte innerweltliche Transzendenz-Erfahrungen" (296) gewonnen werden, so daß der Ausdruck ’Gott’ eine prädikativ-verbale Bedeutung erhält, die auf immanente Vollzüge menschlicher Selbstüberschreitungen hinweist.

Die Unterscheidung zwischen bekennender und philosophischer Theologie macht zwar auf die Spannung zwischen positiv-theologischen Ansprüchen und rationalen religionsphilosophischen Argumentationen aufmerksam, durch die sich der Vf. selbst bestimmt weiß. Doch gelingt es ihm, diese Unterscheidung methodisch und argumentativ durchzuhalten.

Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck, daß er im Kontext seiner religionsphilosophischen bzw. philosophisch-theologischen Bemühungen "außer Fragen nur Aussagen" (308) zuläßt. Unter dieser Bedingung ist er in der Lage, das Gottesproblem als die Kardinalfrage der Religionsphilosophie auf klare und konsequente Weise aufzuwerfen. Für die Verwendung des sprachlichen Ausdrucks ’Gott’ steht weder eine Referenz auf einen raumzeitlichen noch auf einen nicht-raumzeitlich-jenseitigen (supranaturalen) Gegenstand zur Verfügung. Die nur noch im Zusammenhang religiöser Kulturen begegnende Rede von Gott muß sich daher mit sprachlich-metaphorischen Deutungen begnügen, mit denen ein religiöses Bewußtsein subjektiv-erlebnishafte Sinnintentionen zum Ausdruck bringt.

Der Vf. kritisiert zu Recht das in vielen Theologentheologien zutage tretende betrügerische Spiel (304) im Umgang mit dem Ausdruck ’Gott’: Obwohl der Ausdruck ’Gott’ auf kein irgendwie geartetes diesseitiges oder jenseitiges Seiendes verweise, wird er doch zugleich so verwendet, als beziehe er sich auf ein selbständiges (substantielles) Handlungssubjekt. Wegen seiner phänomenologischen und teilweise auch postmodern-ästhetischen Orientierungen wirft der Vf. zwar die Frage nach der Explizierbarkeit des semantisch-noumenalen Gehalts des Gottesgedankens als eines "Selbstgeschöpfs" der menschlichen Vernunft (Kant) nicht direkt auf. Doch aus seinen Überlegungen geht deutlich genug hervor, daß sich Religionsphilosophien und Religionstheologien auf die Situation einer "Religion ohne Theologie" mehr als bisher einzustellen haben.