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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

472–474

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Raabe, Thomas

Titel/Untertitel:

SED-Staat und katholische Kirche. Politische Beziehungen 1949–­1961.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1995. 294 S. gr.8° = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Forschungen, 70. Lw. DM 64,­. ISBN 3­506­79975­4.

Rezensent:

J. Jürgen Seidel

Die anzuzeigende Dissertationsschrift, die 1994 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität angenommen und in der Folgezeit vom Vf. für den Druck überarbeitet wurde, hat der Rez. mit großen Erwartungen in die Hände genommen. Ihr Titel verspricht eine grundlegende Darstellung des Staat-Kirche-Verhältnisses der römisch-katholischen Kirche in den Jahren 1949 (DDR-Gründung) bis 1961 (Errichtung der Berliner Mauer).

Nach allgemeinen Bemerkungen zum Staat-Kirche-Verhältnis widmet sich der Vf. den Exponenten beider Seiten und weist ausgiebig hin auf die Organisationsstruktur der katholischen Kirche, die ihre enge Anlehnung an den westdeutschen Katholizismus und ihre Einbettung in die römische Weltkirche nie verleugnet hat. Das Leserschaftsinteresse dürfte auf sechs kirchenpolitischen Fallstudien liegen, in denen Hauptkonfliktpunkte zwischen Kirche und Staat chronologisch abgehandelt werden: die Einrichtung einer katholischen Hochschule in Erfurt, die christliche Erziehungs- und Sozialarbeit, Jugendweihe und christliche Riten, Zentralveranstaltungen von Katholiken sowie staatliche Zwangsmaßnahmen im gesellschaftlichen Leben der DDR. Zu einzelnen Themenbereichen wird die Haltung verschiedener Funktionäre der Ost-CDU eingebracht. Die Einleitung widmet sich den üblichen editorischen und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten, während eine umfangreiche Schlußbetrachtung die staatliche Kirchenpolitik chronologisch zusammenfaßt und an einzelnen Beispielen nochmals erläutert. Dem Vf. standen für seine Arbeit zahlreiche Archive (einschließlich des Berliner Diözesanarchivs) mit Beständen aus der früheren DDR offen. Trotz dieser flüssig geschriebenen Arbeit drängten sich dem Rez. im Verlauf der Lektüre einige kritische Gedanken auf, die ihm für die zukünftige Forschung zum Thema wichtig erscheinen.

­ Die seit der "Wende" verbesserte Dokumentenlage dank geöffneter Archive zur Überprüfung bisheriger Forschungsergebnisse sollte thematisch und lokal intensiv genutzt werden. Die Schrift von R. legt zu einem nicht geringen Teil Ergebnisse vor, die vor ihm und andernorts bereits erarbeitet wurden, diesmal lediglich angereichert durch ergänzende Beispiele aus dem katholischen Bereich, konkret besonders in der Abhandlung über Katholikentage und Wallfahrten.

­ Für den Fortgang der Forschung nötig sind Studien über das kirchenpolitische Geschehen "vor Ort", also auf Gemeinde­ und Kreisebene. Zu nennen wären im katholischen Raum vor allem das Eichsfeld und wendische Gemeinden. Auch bei R. kommt die Basis wieder einmal zu kurz. Er beschränkt sich zumeist auf Vorgänge der oberen Entscheidungsebenen.

­ Die Darstellung des Verhältnisses von DDR-Staat und römisch-katholischer Kirche kann nicht umhin, staatskirchliche Positionen im Bereich der evangelischen Kirche explizit zu berücksichtigen, zumal deren wissenschaftliche Untersuchung schon auf gutem Wege ist. R. verliert sich hingegen zuweilen in einer allgemeinen Staat-Kirche-Debatte, so daß die konfessionellen Entscheidungszusammenhänge nicht immer klar zu erkennen sind.

Im Verlaufe des Spitzengespräches zwischen Staat und evangelischer Kirche am 10. Juni 1953 erklärte Ministerpräsident Otto Grotewohl, an die Staats-Organe sei die Anweisung ergangen, "daß gegen die Junge Gemeinde und gegen Einrichtungen der Kirche keinerlei weitere Maßnahmen zu treffen sind". Eine Zeitlang bestimmte daraufhin Tauwetter das kirchenpolitische Klima. Nun erschließt R. aus SAPMO-Dokumenten, daß diese Vereinbarung für die katholische Kirche anscheinend keine gravierenden Erleichterungen zur Folge hatte. Beispielsweise durften die geplanten Kinderferienlager der katholischen Kirche im Sommer 1953 nicht durchgeführt werden.

Zu Einzelfragen: Dem Rez. ist nicht deutlich geworden, warum R. als Einstiegsjahr für sein Studie 1949 (statt 1945) gewählt hat, zumal die Kirchenpolitik zum Zeitpunkt der DDR­Gründung keine grundlegende Änderung erfahren hat und andererseits Einflüsse der SMAD (seit den letzten Kriegsmonaten) auf das kirchenpolitische Geschehen unübersehbar sind.

Der Vf. verwendet den Terminus "SED-Staat" als Bezeichnung für die frühere DDR und setzt einen Parteienstaat voraus, ohne daß er die damit verbundene staats- und parteipolitische Diskussion berücksichtigt. Zumindest im Verhältnis von SED und DDR-Staat zur Ost-CDU wäre dies sinnvoll und nötig gewesen.

Der Errichtung einer katholischen Hochschule in Erfurt 1952 widmet R. ein eigenes Kapitel. Dieser Part ist vor allem deswegen interessant, weil aus ihm die Zick-Zack-Bewegung im Handlungsvollzug der verschiedenen Parteikader ersichtlich wird. Das Politbüro erkannte selbst die fehlende Koordination und beschloß daraufhin, daß inskünftig alle Kirchenfragen dem Politbüro zur Entscheidung vorzulegen seien.

Bedauerlich ist der fehlende Hinweis auf die synchrone Debatte der DDR-Regierung mit den evangelischen Kirchen über die Errichtung einer Akademie statt der bisherigen sechs Theologischen Fakultäten ­ für die damals ca. 1500 Studierenden. Erst nach heftiger Einsprache der evangelischen Seite ließ die Regierung diesen Plan damals wieder fallen.

Zur christlichen Jugendarbeit: Die Vorgänge vor und während des evangelischen Jugendtages in Lübbenau 1952 wurden bereits durch Köhler 1974 an Hand von Dokumenten beschrieben. R. erörtert erneut das Geschehen, wobei er dessen nötige Einordnung in das Dreieckverhältnis Staat ­ evangelische Kirche ­ katholische Kirche außer acht läßt.

Es wäre wünschenswert gewesen, zugleich die kirchliche Arbeit unter der studentischen Jugend sowie die restriktiven Maßnahmen bezüglich der Jugendliteratur stärker zu berücksichtigen, zumal in diversen Vorlagen für das Politbüro jener Jahre Sammelberichte vorliegen. Der offene Kampf gegen die christliche Jugendarbeit wurde durch eine "Analyse über die Politik der Kirche der Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik" von Willi Barth, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung "Staatliche Verwaltung" beim ZK der SED, vor dem Politbüro vom 22. Juli 1952 (SAPMO-BA, ZPA, NL 90, 454, 116­127) intensiv abgehandelt.

Zutreffend dürfte die in Anlehnung an Elke Scherstjanoi 1991 beschriebene Darstellung der Vorgänge um den 10. Juni 1953 sein, der gemäß eine kurzfristige Entspannung im Staat- Kirche-Verhältnis von Moskau aus in Gang gesetzt wurde, was bis dahin nur vermutet werden konnte. ­ Schließlich ist die Aussage des Vf.s zu bezweifeln, daß dem Staat die christliche Erziehung in Kindergärten "besonders" in katholischen Gebieten ein Dorn im Auge war, als ob nicht auch die evangelischen Häuser mit gleichen ideologischen (und wirtschaftlichen) Problemen zu kämpfen hatten (173).

Insgesamt hinterläßt die Lektüre der Diss. den Eindruck, die katholische Kirche in der DDR jener Jahre stand wie ein Felsblock in der ideologischen und politischen Brandung ­ ein wohl etwas zu stark geschöntes Bild. Vertiefte Quellenforschung wird hier noch subtiler die Haltung der einzelnen Kirchenfürsten und Pfarrer, aber auch der Gemeindeglieder herauszuarbeiten haben. Trotz aller Anfragen: Die Zeitgeschichtsforschung ist mit dieser Dissertation durch einen farbigen Mosaikstein bereichert worden.