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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

469 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut

Titel/Untertitel:

Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge. Hrsg. von M. Jakubowski-Tiessen u. O. Ulbricht.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 294 S. gr.8°. geb. DM 84,­. ISBN 3-525-55429-X.

Rezensent:

Kurt Nowak

Wer die Geschichte der Neuzeit verstehen will, kann an der Religion nicht vorübergehen. Hartmut Lehmann, Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und jetzt auch Honorarprofessor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel (vgl. ThLZ 121, 1996, 796), gehört zu jenen Historikern, die sich im Verlauf ihres Gelehrtenlebens nicht nur mit Politik, Ökonomie, Ideengeschichte befaßten. Historische Einsicht und persönliche Bindungen veranlaßten ihn zu religionsbezogenen Forschungen bereits zu einem Zeitpunkt, als dies in der Historikerzunft noch ganz und gar nicht üblich war.

Der vorliegende Band vereint aus Anlaß von Lehmanns 60. Geburtstag sechzehn Aufsätze aus den Jahren 1969 bis 1995. Am Beginn steht die Studie "Zur Bedeutung von Religion und Religiosität im Barockzeitalter" (9-27), am Ende die Abhandlung "Dechristianisierung, Säkularisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa" (278-285). In ihnen kommt die besondere Neigung Lehmanns zu methodisch-methodologischen Reflexionen zum Ausdruck. Davon zeugt auch ein weiterer Beitrag: "Zur Erforschung der Religiosität im 17. Jahrhundert" (28-37). Das Spektrum der in diesen Rahmen eingefügten Aufsätze ist ein Spiegelbild von Lehmanns wissenschaftlichem ‘uvre auf dem Gebiet der Kirchengeschichts-, Konfessions- und Religionsforschung.

Ein Teil der Aufsätze ist dem Pietismus gewidmet. Lehmann ist bestrebt, die Forschungen der Kirchenhistoriker um gesellschafts-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven zu erweitern (z. B. "’Absonderung’ und ’Gemeinschaft’ im frühen Pietismus" [114-143]; "Der Pietismus im alten Reich" [83-113]). Kennzeichnend für dieses Anliegen sind Sätze wie diese: "Es scheint mir eine wichtige Aufgabe der weiteren Pietismusforschung, schärfer als bisher den Einfluß zu bestimmen, den die jeweilige historische Situation auf Denken und Verhalten der Pietisten hatte. Manches, was systematisch als anderer Zweig des Pietismus abgegrenzt wurde, wird dann vielleicht als Reaktion auf die Herausforderung einer anderen politischen Lage oder einer neuen Zeit verständlich" (109 f.).

Andere Beiträge sind Indikatoren von Lehmanns engem Kontakt zum britisch-amerikanischen Kulturraum, und dies nicht allein wegen ihrer Abfassung in englischer Sprache. In den Jahren 1987-1993 wirkte Lehmann als (Gründungs-)Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington. So steht der Aufsatz "Pietistic Millenarism in Late Eighteenth-Century Germany" (158-166) im Kontext eines Vergleichs der politischen Kulturen in England und Deutschland und ihrer Transformationen. Der Aufsatz über den Stellenwert des Alten Testaments in der Geschichte des deutschen Nationalismus "The Germans as a choosen people" (248-259) ist, wenn man so will, in der Themenstellung, vor allem aber in den "conclusions" (257-259) einem typisch anglo-amerikanischen Anliegen verpflichtet. Nach Australien führt der Aufsatz "South Australian German Lutherans in the Second Half of the Nineteenth Century" (260-277). In ihm erörtert Lehmann den Prozeß der Assimilation der deutschen Lutheraner, die seit den 1830er Jahren nach Australien auswanderten. Ohne Assimilationsdefizite zu leugnen, klingt Lehmanns Gesamtbilanz versöhnlich. Die heutige Politik des Multikulturalismus müsse von einer "well planned policy of language-teaching" begleitet sein; sie ist "the first prerequiste of a genuine policy of assimilation" (277).

Die Spannbreite der in dem Band behandelten Themen ist beträchtlich. Dabei sind, wie die Hgg. betonen, andere Forschungsgebiete des Jubilars noch gar nicht berücksichtigt: Reformationsgeschichte, Lutherrezeption, Max Weber, amerikanische und deutsch-amerikanische Geschichte im 19. und 20. Jh. Wer sich über das zuletzt genannte Gebiet näher unterrichten will, kann an einen weiteren Sammelband verwiesen werden (Alte und Neue Welt. Studien zu den transatlantischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995).

Die in dem sorgfältig hergestellten Band vereinten Aufsätze sind durchweg schon an anderer Stelle veröffentlicht. Sie bequem zwischen zwei Buchdeckeln präsentiert zu sehen, ist eine wohlverdiente Ehrengabe für den Autor und eine Erleichterung für seine Leser. Um bei aller Anerkennung auch eine Kritik anzubringen: Warum ist der Titel "Religion und Religiosität" nicht näher erläutert? Bis gegen Ende des 18. Jh.s lagen im Begriff Religion die objektive Seite ("Religion") und die subjektive Seite ("Religiosität") ungeschieden beieinander. Der Durchbruch des Terminus "Religiosität" unterstrich das subjektgeleitete Moment. Dem Rez. scheint, daß ein Hinweis darauf geeignet gewesen wäre, das Interessenfeld des Jubilars noch deutlicher zu kennzeichnen, als das in dem ein wenig zu kurz und technizistisch abgefaßten "Vorwort" der Hgg. geschieht.