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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

467–469

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Blaschke, Olaf, u. Frank-Michael Kuhlemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion im Kaiserreich. Milieus –­ Mentalitäten –­ Krisen.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1996. 542 S. gr.8° = Religi-öse Kulturen der Moderne, 2. Geb. DM 148,­. ISBN 3-579-02601-1.

Rezensent:

Hans Martin Müller

In den letzten Jahren hat die lange Zeit gering geschätzte und von der Forschung vernachlässigte religiöse Kultur im Deutschland des ausgehenden 19. Jh.s erhöhte Aufmerksamkeit gefunden. Die von Fr. W. Graf und G. Hübinger herausgegebene Reihe "Religiöse Kulturen der Moderne" will fundierte theologische und sozialwissenschaftlich orientierte Forschungsergebnisse zu diesem Thema veröffentlichen; als erstes liegt nun der 2. Band der Reihe vor. Er enthält eine Reihe sozialgeschichtlicher Einzeluntersuchungen vornehmlich jüngerer Wissenschaftler zumeist aus der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld oder ihrem Umkreis. Sie alle verbindet die durch die Begriffe "Mentalität" und "Milieu" vorgegebene Perspektive auf ihren Gegenstand, die religiösen Strömungen, Verhältnisse, Einstellungen und Strukturen im wilhelminischen Deutschland.

Wie diese Begriffe zu verstehen sind und welche Leistungen die Sozialgeschichte von ihrer Anstrengung erwarten kann, wird von Blaschke und Kuhlemann in einer straffen, aufschlußreichen Einleitung "Religion in Geschichte und Gesellschaft" (7-56) entfaltet. Dabei gehen die Vff. von der These aus, daß das 19. Jh. gleichzeitig eine "Relevanzkrise der Religion und ihre Renaissance erlebte" (9), die von der Säkularisierungsthese und einer Modernisierungskrisen-Theorie nur unzulänglich erfaßt werden kann. Aus diesem Grund lassen sich von der Mentalitätsgeschichte, die "fest verankerte" verhaltensleitende Überzeugungen in den Blick nimmt, und vom Einsatz beim "Milieu", der nach integrierenden und desintegrierenden Faktoren der Gesellschaft fragen muß sowie ihrer "wechselseitigen Verknüpfung" (11) weiterführende und erhellende Einsichten erhoffen. Beide Begriffe bedürfen allerdings einer Klärung. Diese versuchen die Vff. in einer Diskussion der verschiedenen begriffsgeschichtlichen Ansätze zu geben.

Im Unterschied zum französischen Verständnis der Mentalität als beziehungsreiche und letztlich unübersichtliche "atmosphère mentale" stellen sie die in der deutschen Forschung bevorzugte Konzentration auf die "komplexen Relationen zwischen den materiellen Bedingungen und geistig-psychischen Dimensionen des sozialen Handelns" heraus (13) und fassen unter "Mentalität" die "soziokulturelle Wirklichkeitsdeutung einer Gruppe" (20) zusammen. Dabei schließt man an den Husserlschen Begriff der "Lebenswelt" an und führt damit über den Horizont der Ideen- und Geistesgeschichte hinaus. Um der Verwendung unscharfer Begriffe zu entgehen, bietet sich bei der Rekonstruktion von Mentalitäten das "Modell konzentrischer, zugleich aber durchlässiger Kreise" (21) an, deren Mittelpunkt ein Idealtypus bildet.

Auch der Milieubegriff hat seit Auguste Comte Wandlungen durchgemacht und ist in seiner Leistungsfähigkeit für die Erkenntnis sozialgeschichtlicher Phänomene umstritten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes suchen seiner Unschärfe und Aufweichung dadurch entgegenzutreten, daß sie unter Milieu den Zusammenschluß von Individuen verstehen, die einen gemeinsamen Normen- und Wertehorizont (Mentalität) vertreten, danach ihr Verhalten "ähnlich gestalten und in einem organisierten Kommunikationszusammenhang agieren" (23). Aus einem bloßen heuristischen Prinzip wird so das "Milieu" zu einer konkret zu beschreibenden sozialen Wirklichkeit. Wie bei einem solchen Verständnis der Mentalität droht auch bei dem des Milieus die Verwechselung erfahrbarer Wirklichkeit mit einem bloßen Konstrukt. Die Vff. selbst sehen diese Gefahr und möchten ihr durch konkrete Einzelforschung wehren, bei der sich die Relevanz der zunächst heuristisch gebrauchten Begriffe herausstellen soll. (56). Dies versuchen die Einzelbeiträge des Bandes, indem sie charakteristische Facetten der drei "Großgebilde" Katholizismus, Protestantismus und Judentum untersuchen.

Unerklärt bleibt bei alledem, was der Profanhistoriker unter "Religion" versteht, wodurch also ein sozialgeschichtliches Phänomen als "religiös" qualifiziert werden kann. Das zeigt sich besonders im letzten Kapitel, wo die "Transformationen der Religion" (455 ff.), die aus den Krisenerscheinungen des religiösen Bewußtseins hervorgegangenen gesellschaftlichen Erscheinungen, diskutiert werden.

Jedenfalls orientieren sich die Einzeluntersuchungen an den konfessionellen Gegebenheiten im wilhelminischen Deutschland, wobei die großen Religionsgesellschaften selbst nur den äußeren Rahmen bilden, die Milieustrukturen in ihren mannigfachen gesellschaftlichen Verflechtungen den eigentlichen Inhalt. So kommen im Wechsel Mikro-, Meso- und Makromilieus mit ihren "lokal, regional, sozial, aber auch theologisch geprägten Mentalitäten" (51) zur Darstellung. Das Spektrum reicht vom katholischen Vereinswesen um 1900 (J. Moser) über das katholische Bürgertum im Rheinland zwischen 1870 und 1914 (Th. Mergel) zu den sozialdemokratischen Katholiken in München (K. H. Pohl) für den Katholizismus, dem allgemein eine stärkere Tendenz zur Bildung von Makromilieus zugeschrieben wird als dem Protestantismus. Die Vff. nehmen als Ursache durchgängig den Minoritätsstatus der Katholiken an, der durch die preußische Vorherrschaft im wilhelminischen Deutschland politisch akzentuiert wurde.

Daß ein traditionell unterschiedliches Kirchenverständnis zugrundeliegen könnte, kommt kaum in den Blick. Jedenfalls scheint die Heterogenität des Protestantismus zu irritieren. Wenngleich z. B. im Vereins- und Verbandswesen (J.-Chr. Kaiser) übergreifende Strukturbildungen ausgemacht werden, bleibt für den Protestantismus die Region im großen und ganzen Gliederungsprinzip. Es entstehen so Einzelcharakteristiken protestantischer Milieus in Oldenburg (D. v. Reeken), Baden (Fr.-M. Kuhlemann) oder zur preußischen Pfarrerschaft (O. Janz).

Wieder anders verhält es sich im Judentum, an dessen Organisation der Milieubegriff als Interpretament an seine Grenzen stößt. T. van Raden sucht darum die Judenschaft im Kaiserreich unter dem im angelsächsischen Bereich entwickelten Begriff der "Ethnizität" zu fassen. Dabei ergibt sich "etwas ganz Neues, nämlich eine deutsch-jüdische Ethnizität" (414). Wie vielfältig diese aber in sich aufgefächert war, zeigt A. Hopp an der jüdischen Gemeinde in Frankfurt a. M. auf.

Besonders interessant stellen sich die "religiösen Transformationen" dar: Freidenkertum, Entkirchlichung, Antiultramontanismus, "Nationalismus als ’politische Religion’"(P. Walkenhorst) erweisen sich als Erscheinungen, in denen die Krise des religiösen Bewußtseins nach 1871 (F. Simon-Ritz) ihren Ausdruck findet. Ihrem Selbstverständnis nach werden eine Reihe dieser Bildungen aber kaum das Prädikat "religiös" auf sich angewendet sehen wollen. Hier scheinen also noch weitere Klärungen nötig zu sein.

Insgesamt bringen die Untersuchungen sowohl prinzipiell wie in konkreten Einzelheiten eine Fülle von neuen Einsichten und Zugängen zu einer Geschichtsepoche, die in ihren Auswirkungen spürbar in die Gegenwart hineinreicht. Davon kann die Kirchengeschichtsschreibung lernen. Andererseits könnte die Profangeschichte von primär theologisch arbeitenden Historikern Aufschlüsse über religiöse Zusammenhänge erhalten, die ihr eigenes begriffliches Instrumentarium nicht erfaßt. Es ist zu hoffen, daß die mit dem vorliegenden Band eröffnete Reihe über das bloße Nebeneinander beider Ansätze hinaus zu einer symbiotischen Forschungsgemeinschaft findet.