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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

449–454

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neugebauer, Johannes

Titel/Untertitel:

Die eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden. Eine Untersuchung zu Johannes 13–17.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 190 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 140. Kart. DM 79,­. ISBN 3-17-013800-6.

Rezensent:

Hartwig Thyen

Die Arbeit ist eine unter der Ägide von Ludger Schenke entstandene Mainzer Dissertation. Das Besondere dieser neuen Untersuchung der schon oft befragten "eschatologischen Aussagen" der johanneischen Abschiedsreden Jesu besteht wohl darin, daß Neugebauer den gesamten Abschnitt Joh 13-17 als einen vom Vorausgehenden ebenso wie vom Nachfolgenden klar abgegrenzten, in sich syntaktisch kohäsiven und semantisch kohärenten Teiltext des vierten Evangeliums analysiert und dementsprechend auch dessen eschatologische Aussagen als kohärent zu begreifen sucht. Seine Untersuchung hat drei Teile, in deren erstem ("Einführung") er zunächst, vielleicht allzu knapp, seine "Fragestellung" erläutert (13), danach einen ebenso gedrängten wie informativen "Forschungsüberblick" bietet (14-34), um endlich aus den aufgewiesenen Defiziten der Forschung methodische Konsequenzen für die eigene Untersuchung zu ziehen (35-44). Im zweiten und eigentlichen Hauptteil bietet N. dann eine "textlinguistische Untersuchung" von Joh 13-17 (45-154). Abschließend folgt dann in einem dritten Teil (= "Schluß": 155-161) ein Resümee der Ergebnisse. Neben dem umfangreichen "Literaturverzeichnis" (162-178) bieten ein "Autorenregister" (179-182) und ein Verzeichnis aller zitierten Texte aus Bibel, frühjüdischen Schriften und Apostolischen Vätern (183-190) willkommene Lektürehilfen.

Für seinen chronologisch geordneten "Forschungsüberblick" hat N. aus der nahezu unübersehbaren Masse der Publikationen eine sehr geschickte und kundige Auswahl getroffen und damit die ganze Breite der divergierenden Interpretationen eindrucksvoll vorgeführt. Auch wenn man da ­ ebenso wie im Literaturverzeichnis ­ die Basler Dissertation von P. Ricca (Die Eschatologie des Vierten Evangeliums, Zürich 1966) vermißt, ändert dieses Defizit nichts an dem gleichwohl repräsentativen Charakter der dargestellten Positionen. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Aussagen des scheidenden Jesus über sein Weggehen und sein Wiederkommen. Die spannungsvolle Vielfalt von deren, sich wechselseitig vielfach sogar ausschließenden Interpretationen resümiert Neugebauer in dem folgenden Fragenkatalog:

Beziehen sich Jesu Aussagen nun "auf die nahe Zukunft der Jünger... auf die mit der Auferstehung beginnende Heilszeit..., auf die Heimholung der Jünger noch zu deren Lebzeiten..., auf das Kommen Jesu im Geist... oder auf die Parusie...? Vertreten sie ein Konzept, in dem Ostern, Pfingsten und Parusie zusammenfallen,... oder stellen sie verschiedene eschatologische Vorstellungen relativ unverbunden nebeneinander...? Dienen [sie]... womöglich nur als Camouflage für ein rein präsenzeschatologisches Konzept...? Ergibt sich ihr letzter Sinn erst auf der metakommunikativen Ebene...? Oder ist auf eine zusammenhängende Interpretation ganz zu verzichten" (wegen der vermeintlich inkohärenten literarischen Schichtung der sogenannten "Abschiedsreden") (31)?

Mit diesen Fragen sucht N., die zuvor erörterten konkreten Positionen einflußreicher Exegeten auf den Begriff zu bringen. Ihrem bedrohlichen Labyrinth meint er dadurch entrinnen zu können, daß er das von E. D. Hirsch (Validity in Interpretation. 1967; deutsch: Prinzipien der Interpretation, München 1972) vorgeschlagene Projekt einer "objektiven Interpretation" als rettenden Ariadnefaden ergreift (31 ff). Doch dazu muß er Hirschs problematische Trennung des vermeintlich objektiv feststellbaren "unveränderlichen Sinnes" ("verbal" oder "authorial meaning") von Texten von ihrer ­ je nach Lage und Fragestellung der jeweiligen Rezipienten ­ "veränderlichen Bedeutung" (significance) aufgreifen.

Dabei übersieht er jedoch, daß Hirsch weit über eine bloß methodische Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung hinausgeht und beide so rigoros voneinander trennt, daß er seine gesamte Untersuchung schließlich allein auf die Frage nach dem mit der vermeintlichen Autorenintention identifizierten und zeitlos mit sich selbst identischen Textsinn konzentriert, während er die Bestimmung der sich ständig wandelnden Bedeutung von Texten der Literaturwissenschaft (literary criticism) zuweist. Wolle die jedoch einen Text nicht nur willkürlich benutzen, sondern sachgemäß interpretieren, so müsse sie jede seiner möglichen Bedeutungen zuvor an der unveränderlichen Größe seines objektiven Sinnes messen. Darum sieht Hirsch die primäre Aufgabe aller Interpretation in der Feststellung dieses Sinnes, deren Objektivität dadurch verbürgt ist, daß sie überprüfbaren und intersubjektiv verbindlichen Regeln, eben jenen von Hirsch ausgearbeiteten "Prinzipien der Interpretation" folgt. Doch so verlockend diese Verheißung eines objektiven Ausgangspunktes und Maßstabs auch sein mag, sie ist die Stimme eines Pseudopropheten, deren proton pseudos gerade in der rigorosen Trennung der subtilitas intelligendi von der subtilitas explicandi und applicandi liegt. Denn daß diese Subtilitäten als voneinander unabtrennbare Seiten ein und derselben Sache eine unaufhebbare dialektische Einheit bilden, hatte schon Schleiermacher klar erkannt. Dies und daß Hirsch sich in dieser Sache zu Unrecht gerade auf Schleiermacher beruft, hat M. Franks epochale Neuinterpretation von dessen Hermeneutik auf Schritt und Tritt evident gemacht (Das individuelle Allgemeine, Frankfurt 1977; vgl. zu Hirsch ebd. 250 ff.). Da sich zudem jeder Autor eines literarischen Textes samt seinen bewußten und/oder unbewußten (!) Intentionen gänzlich in sein Werk entäußert hat, ist es verfehlt, dessen Sinn, statt in ihm selber (als intentio operis), irgendwo hinter ihm im Kopf seines Urhebers zu suchen. Schriftlich verfaßte Texte sind sowohl den vermeintlichen Intentionen ihrer Autoren als auch der Situation von deren mutmaßlichem "Erstpublikum" gegenüber autonom. Sie sind nicht Reflektoren realer Welten, sondern Entwürfe geheimer Gegenwelten; vgl. dazu P. Ricoeur (Philosophische und theologische Hermeneutik: EvTh, Sonderheft 1974, 24-45; Ders., Qu’est-ce qu’un texte? In: FS-Gadamer, Tübingen 1970, Bd.2, 181-200) und M. Frank (Das Sagbare und das Unsagbare, stw 317, Frankfurt 21989, 121-195; Ders., Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache: In: Ph. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation. UTB 1257, München 1984, 181-213).

Doch zum Glück für seine Untersuchung folgt N. der Theorie von Hirsch und dessen Code-Modell zur Entschlüsselung literarischer Texte, das doch wohl eher dem dunklen Metier der Geheimdienste als dem Umgang mit lebendiger Sprache zugehört (vgl. Frank, Grenzen der Beherrschbarkeit 192 u. Ders., Das Sagbare 208 f.), nur scheinbar. Denn kaum zwei Seiten nach jener Berufung auf Hirsch beklagt er schon die für die herkömmliche Exegese bezeichnende "Vernachlässigung der Verstehensbedingungen beim Leser", die natürlich auch und zumal Hirschs Theorie betrifft:

"Es mag vielleicht verwunderlich erscheinen, daß ich einerseits mit E. D. Hirsch auf den vom Autor intendierten ursprünglichen Sinn eines literarischen Werkes rekurriere, andererseits aber die Vernachlässigung der Verstehensbedingungen beim Leser beklage. Die gemeinsame Mitte dieser scheinbar divergierenden Anliegen liegt in meiner Prämisse, daß auch der Verfasser eines biblischen Textes verstanden werden wollte, und zwar nicht in erster Linie von hochspezialisierten Fachleuten mit detektivischem Spürsinn, die durch besonders verwegene Erklärungen ihre Daseinsberechtigung nachweisen wollen. Zur Verbindung von Autorintention und Leserorientierung vgl. Jauß 1975, 339 [=Poetica 7 (1975), 325-344]; Petersen 1984, 40 [=The Reader in the Gospel: Neotest.18 (1984), 38-51]; Warning 1988, 25 [=Rezeptionsästhetik, UTB 303, München 31988]" (35).

Außer dieser doch sehr allgemein als "meine Prämisse" formulierten Auskunft, "daß auch der Verfasser eines biblischen Textes verstanden werden wollte", und den wenigen, eher zufälligen Literatur-Hinweisen gibt N. jedoch keinerlei texttheoretische Begründung für Art und Notwendigkeit der unaufhebbaren Verbindung dessen, was er ­ immer noch im Gefolge von Hirsch ­ "den vom Autor intendierten ursprünglichen Sinn eines literarischen Werkes" nennt, und der stets nur hypothetisch oder, mit Schleiermacher gesagt: via divinationis möglichen Realisierung dieses "Sinnes" durch Leser. So bleibt, wie die gesamte theoretische Grundlegung seines Vorhabens, leider auch der knappe Exkurs "Zu Wert und Grenzen der Konzepte vom ’implizitem Leser’ und ’implizitem Autor’" (39-42) allzu vage, so daß die Interaktion zwischen dem implizierten Autor/Erzähler und seinem virtuellen Leser für die folgende Textanalyse nicht wirklich fruchtbar gemacht werden kann.

Gleichwohl wiegt aber die praktische Durchführung der Analyse von Joh 13-17 diese Theorie-Defizite weitgehend auf. Denn ohne daß dabei die fraglosen "Kohäsionsmängel" rhetorisch heruntergespielt oder als Lizenz zum Ansetzen der literarkritischen Schere mißbraucht würden (vgl. 74 f.), gelingt es N. überzeugend, die syntaktische und textgrammatische Kohäsion des gesamten Blocks Joh 13-17 in äußerst gedrängter Form aufzuweisen (Kap. 4: 45-76). Von der Kohäsion unterscheidet er die durch den thematischen Aufbau bestimmte Kohärenz dieses Teiltextes, deren Aufweis das folgende fünfte Kapitel dient (77-98). Sehr schön kommt dabei heraus, daß und wie das gesamte dreizehnte Kapitel durch Joh 15 unter dem Gesichtspunkt der Situation der Jünger nach dem geschehenen Weggang Jesu quasi reinterpretiert wird und darum unlösbar mit dem Block der Kap. 13-17 verbunden ist (vgl. die Zusammenfassung der Kohärenzanalyse: 93-98).

Die beiden folgenden Kap. 6 u. 7 dienen der Untersuchung der Bezüge von Joh 13-17 zum übrigen Evangelium und zu den JohBriefen. Daß N. diese notwendige Analyse unter die Überschrift "Intertextualität" stellt, ist freilich zumindest irreführend (99-139). Denn in bezug auf das Evangelium ist hier doch einfach die für jede Interpretation eines Teiltextes immer schon unabdingbare Frage nach dessen Ort und Funktion im Kontext des gesamten Werkes zu erörtern. Das ist aber kein Problem von Intertextualität, sondern die Ausdehnung der Kohäsions- und Kohärenz-Analyse auf den Gesamttext. Und erst recht ist es sinnlos, die Klärung des Verhältnisses des Evangeliums zu den JohBriefen unter dem Stichwort der Intertextualität zu unternehmen, zumal N. die Briefe ­ m. E. völlig zu Recht ­ zeitlich nach dem Evangelium ansetzt. Denn bei Intertextualität handelt es sich stets darum, daß ein Autor in dem Vertrauen, daß sein virtueller Leser die Spielregeln begreifen und sich an dem Spiel beteiligen wird, mit älteren Vortexten spielt. Darum könnte von Intertextualität nur im Blick auf das Verhältnis der JohBriefe zum Evangelium die Rede sein, nicht aber in umgekehrter Richtung. Und wenn Joh 13-17 schon unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität untersucht werden soll, dann erwartet man hier angesichts der gegenwärtig neu in Gang gekommenen Diskussion über das Thema Johannes und die Synoptiker doch eher die Klärung des Verhältnisses von Joh 13-17 zur synoptischen Apokalypse. Denn gerade im Blick auf N.s Grundfrage nach den "eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden" wären mögliche intertextuelle Beziehungen dieser Reden zu dem großen Redeblock von Mk 12-13, der wie unsere Abschiedsreden dem Einzug Jesu in Jerusalem folgt, doch unter Umständen von erheblichem Gewicht.

Die Beziehungen von Joh 13-17 zum Kontext des übrigen Evangeliums behandelt N. zunächst unter thematischen Gesichtspunkten wie: "Die Herkunft Jesu" (100 f.), sein "Verhältnis zur Welt" (101), sein "Tod/Fortgang" (101 f.), "Die individuellen Jünger-Gestalten (102 f.) mit einem Exkurs: "Zur Identifikation des ’geliebten Jüngers’" (103-106) etc. Zwar gelingt es N. auch hier, die tiefe Verankerung der Abschiedsreden im gesamten Werk eindrucksvoll vorzuführen, doch wünschte man sich bei manchem dieser allzu kurzen Abschnitte eine erhebliche Vertiefung.

So erreicht etwa die unter Berufung auf Käsemann erfolgende Kontrastierung des Kreuzestheologen Paulus mit Johannes, der demgegenüber vor dem Kreuz der Inkarnation den "soteriologischen Vorrang" einräume (100), kaum die semantische Tiefendimension dessen, was bei Johannes kai ho logos sarx egenetoundkai ho artos hon ego doso he sarx mu estim hyper tes tu kosmu zoes (6,51) heißt; vgl. zur Sache nur H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im JohEv, AThANT 72, Zürich 1987; u. Th. Knöppler, Die theologia crucis im JohEv, WMANT 69, Neukirchen 1994. In diesem Zusammenhang erscheint mir sowohl unter dem Gesichtspunkt der äußeren, zumal aber unter dem der inneren Textkritik auch N.s Interpretation von Joh 13,10 höchst problematisch (81 f.).

Danach soll das "Waschen" (niptein) etwas noch über das vorausgehende "Gebadetsein" (luein) "Hinausgehendes" schaffen: Während "die durch das Baden bewirkte Reinheit... im Verhältnis (der Jünger) zu Jesus zu dessen Lebzeiten" begründet sein soll, entspreche "das Verhältnis von Vollbad und Fußwaschung... dem eindeutigen soteriologischen Primat der Inkarnation vor dem Kreuzestod Jesu im JohEv". Was aber soll das heißen, wenn doch nach Joh 13,8 allein die Fußwaschung, in der ja auch N. den "Kreuzestod Jesu präfiguriert" sieht, an Jesus und damit am Heil "teilgibt"? Kann man denn das Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten als Inkarnation des ewigen logos Gottes derart historisieren, daß aus Inkarnation und Kreuzigung voneinander isolierte "Heilstatsachen" werden, die unterschiedliche Grade des "Heils" stiften? Und eine vorgängige Reinheit, die ihren Grund im Verhältnis der Jünger "zu Jesus zu dessen Lebzeiten" und insofern in seiner Inkarnation haben soll, setzte ja ein von Kierkegaard zu Recht bestrittenes Privileg der historischen Jünger allen Nachgeborenen gegenüber voraus. ­ Im übrigen sollte man bei Johannes die allein an den in der Liebe wirksamen Glauben der Jünger gebundene Teilhabe an Jesus selbst in Anführungszeichen nicht ihre "Vergöttlichung", sondern wohl eher ihre wahre Menschwerdung nennen (101; vgl. 107). ­ Gänzlich unzureichend erscheint mir auch N.s Versuch, den ’geliebten Jünger’ mit Nathanael zu identifizieren (103-106) und dessen vermeintlichen Tod zur Krise der "Naherwartung" und Ursache einer "Uminterpretation des diesbezüglichen Jesuswortes" (21,22 f.) machen zu wollen (vgl. 111 f.).

Von diesen und anderen Fragen abgesehen ist aber die auf den Seiten 117-119 gegebene Summe der "Ergebnisse der Untersuchung der Beziehungen zum Corpus Iohanneum" (117-119) überzeugend. N. demonstriert zunächst, daß und wie der gesamte Block Joh 13-17 in den Kapiteln 1-12 sorgfältig vorbereitet ist. Danach weist er die besonders dichte Verknüpfung von Joh 13/14 mit Joh 18-21 auf und zeigt dann, daß Joh 15/16 im Gegensatz dazu seine signifikantesten Entsprechungen im 1Joh hat:

"Die Nähe von Joh 15/16 zu 1Joh geht aber über die positive und negative Abgrenzung der Gemeinschaft hinaus und betrifft gleichermaßen die Zukunftsaussagen, die in Kap 16 gemacht werden. Die Ankündigungen 16,16-27 lassen sich besser in Entsprechung zu den Parusieaussagen 1Joh 2,28; 3,2; 4,17 lesen als in Übereinstimmung mit den Erscheinungserzählungen in Joh 20/21 bringen..." (118).

Dieses Ergebnis, das freilich auch zu einer völlig neuen ­ und m. E. längst fälligen ­ Lektüre des 1Joh führen müßte, wird durch die nachfolgende theoretisch gut fundierte und praktisch glänzend umgesetzte semantische Analyse der "eschatologischen Sprache" von Joh 13-17 noch bestätigt und präzisiert (120-139). In seiner Zusammenfassung dieses Teils unterscheidet N. in Joh 13-17 drei deutlich voneinander abzugrenzende "eschatologische Sprachspiele", nämlich einmal das auf die ausstehende Parusie bezogene von 16,16-28 (136 f.), zum anderen das Sprachspiel in Joh 13,33-14,6, das er mit guten Argumenten auf die Jesusnachfolge des Märtyrers und auf dessen Aufnahme in die himmlischen Wohnungen bezieht (137 f.), und endlich das Joh 14,18-23 bestimmende und auf die österlichen Erscheinungen Jesu verweisende Sprachspiel (138 f.). "Daß diese Bezugnahme unter weitestgehendem Verzicht von Auferstehungs- und Erscheinungsterminologie erfolgt, und stattdessen Ausdrücke, die sonst bevorzugt im Zusammenhang mit der Parusie fallen, verwendet werden, ist dennoch auffällig. Man könnte darin einen Hinweis sehen, daß angesichts einer verzögerten Parusie die Erscheinungen des Auferstandenen als (teilweise) Erfüllung der Parusieankündigungen verstanden wurden. Der Schluß, es sei deshalb davon auszugehen, im JohEv werde die Parusieerwartung ausgeschaltet, ist m. E. aber verfehlt..." (138). Ich kann dem nur zustimmen! Dies Bild würde noch stimmiger, wenn die Intertextualität des JohEv mit seinen drei älteren Vorgängern ins Auge gefaßt und die These vom 1Joh als Zeugen eines "innerjohanneischen Schismas" endlich zu den Akten gelegt würde. M. E. handelt es sich im 1Joh wie Joh 6,60ff. und 8,31 ff., wo das pepisteukotas plusquamperfektische Bedeutung haben muß, um das Phänomen der Apostasie, also um die Preisgabe des messianischen Bekenntnisses, und nicht etwa um irgendeine christologische Häresie. Das signifikante Lexem menein ruft zum Bleiben bei Jesus und d. h. in der Kirche, und fordert nicht etwa die Treue zu einer spezifisch "johanneischen Sekte".

Das folgende achte Kapitel umfaßt nur gut fünf Seiten (140-145) und ist mit dem Terminus "Situationalität" überschrieben, den der Vf. De Beaugrande/Dressler (Einführung in die Textlinguistik. KSL 28, Tübingen 1981) entleiht und so definiert: "Jeder Text ist auf eine bestimmte Situation bezogen, in der er relevant und angemessen sein muß" (43). N. setzt hier ein mit der Beobachtung, daß zu Eingang von Joh 13 "eine genaue Bestimmung der für den folgenden Abschnitt geltenden Situation" gegeben wird (141). Erst mit dem Joh 18,1 erzählten Aufbruch und Weg Jesu mit seinen Jüngern über den Kidron in einen Garten ändert sich diese Situation. Aber durch die hier zugleich erfolgende Wiederaufnahme des bereits in 14,31 und damit vor den Kapiteln 15-17 niedergelegten Fadens der Erzählung, gewinnen die Kap. 15-17 eine merkwürdige, quasi situationslose Sonderstellung.

Doch anders als andere stellt sich N. dieser Herausforderung des Lesers und beseitigt das Problem nicht durch die "Schere und Kleister Methode" der Literarkritik, indem er wie etwa Bultmann durch Textumstellungen eine vermeintlich ursprüngliche Textfolge zu rekonstruieren sucht, oder wie Becker u. a., die, ohne die Probleme der handschriftlichen Überlieferung und des antiken Publikationswesens zu bedenken, für Joh 15-17 spätere Autoren und/oder Bearbeiter postulieren.

N. zeigt zunächst, daß alle Dialogfragen der Kap. 13 u 14 von einzelnen, namentlich genannten Jüngern gestellt werden, die dem virtuellen Leser aus dem bisherigen Gang der Erzählung selbst oder aus den Prätexten, mit denen ihr Erzähler spielt, bekannt sind; und weiter, daß alle diese Fragen ihre Antwort und Auflösung innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums selbst finden. Dann macht er darauf aufmerksam, daß in dem Block Joh 15/16 im Gegensatz dazu nicht nur derartige Fragen einzelner Jünger, sondern direkte Fragen überhaupt fehlen. Ohne das Wort an Jesus zu richten, rätselt hier vielmehr nur eine anonyme Jüngergruppe über Jesu Wort: mikron kai uketi theoreite me, kai palin mikron kai opsesthe me (16,16 ff). Doch der allwissende Protagonist Jesus erkennt, was seine Jünger bewegt, und äußert sich ­ freilich en paroimiais (16,25)! ­ zu ihrem Problem. Nun hatten ja schon die beiden vorausgehenden Kapitel gezeigt, daß sich das palin mikron von 16,16 u. 19 auf Jesu Parusie und damit im Unterschied zu den direkten Jüngerfragen von 13/14 auf ein Jenseits der erzählten Welt des Evangeliums beziehen muß. Das gilt auch von anderen Zügen dieser Kapitel ­ wie etwa von den 16,2 angekündigten Ereignissen ­ und wird dadurch bestätigt, daß in Joh 15/16 (vgl. nur 16,33) die Stimme des scheidenden Jesus deutlich von der des erhöhten Herrn übertönt wird (vgl. 142 ff.). Ohne dem literarkritischen Kurzschluß zu verfallen, daß hier deshalb ein anderer Erzähler in einer anderen Zeit und Situation zur Feder gegriffen und das Vorige auf seine Weise reinterpretiert haben müsse, faßt N. seine Beobachtungen zu Joh 15/16 mit Léon-Dufours Worten darin zusammen, daß hier "der verherrlichte Christus... eine letzte Botschaft an die Kirche..." richte (145).

Im Gegensatz zu den durch 14,31 deutlich voneinander abgehobenen beiden Blöcken 13/14 und 15/16 werden diese jedoch durch das ihnen folgende Gebet Jesu wieder deutlich miteinander verbunden, denn von ihm gilt:

"Für das Gebet Jesu in Kap. 17 läßt sich keine einheitliche Situation ausmachen. Dennoch wäre es verfehlt, es als ’situationslos’ zu bezeichnen. Denn einige Stellen verweisen deutlich auf einen Ort innerhalb der durchlaufenden Jesushandlung des Evangeliums, wie andere ebenso klar die bereits erfolgte Erhöhung Jesu voraussetzen" (145).

Ehe N. seine Ergebnisse in dem knappen dritten Teil und "Schluß" seiner Untersuchung abschließend resümiert, erörtert er im letzten und neunten Kapitel des Hauptteils als einen wichtigen Aspekt der Intertextualität noch die Frage nach den "Textsorten" (146-154). Im Anschluß an K. Berger (Formgeschichte des NT. Heidelberg 1984) setzt er dazu mit dem Versuch ein, zunächst die Gattung des Gesamttextes Johannesevangelium zu bestimmen. Denn, wie Berger gezeigt hat, kann "ein längerer Text (durchaus) mehrere Gattungen in sich bergen". Doch seine "einzelne(n) Teiltexte" werden dabei, auch wenn sie "sich jeweils bestimmten Textsorten zuweisen lassen", in einer Weise "der Rahmengattung des Gesamttextes inkorporiert", daß nun "die Gattungsmerkmale des übergeordneten Textes sich in alle Teiltexte hinein auswirken" (146 f.). Hatte bereits der Literaturwissenschaftler R. M. Frye die biblischen Evangelien im Unterschied zum historischen Drama als dramatische Historien beschrieben (A Literary Perspective for the Criticism of the Gospels. In: D. B. Miller [Ed.], Jesus and Man’s Hope II, Pitsburg 1971, 193-221), so geht N. auf den Spuren seines Lehrers L. Schenke (Das JohEv. Einführung ­ Text ­ dramatische Gestalt. UB 446, Stuttgart 1992) noch weit darüber hinaus und bestimmt das JohEv im Unterschied zu den Synoptikern als historisches Drama. Die dafür schon von Schenke u. a. vorgebrachten Argumente sind m. E. schwer zu widerlegen (147 ff.).

Und wie diesen Gesamttext, so kann N. auch die Gattungen der ihm mit den Kapiteln 13-17 integrierten Teiltexte in Anlehnung an eine ­ hier noch viel breitere ­ Forschung und in Aufnahme der in diesem Zusammenhang von E. von Nordheim (Die Lehre der Alten. 2 Bde. ALGHJ 13 u. 18, Leiden 1980 u. 1985) entwickelten Kriterien bestimmen: Joh 13/14 einerseits und Joh 15/16 andererseits sind zwei Varianten des Typus "literarisches Testament" (149 ff.). Die in Joh 17 vorliegende "Verbindung von Rechenschaftsbericht und Bittgebet ist charakteristisch für die Gebete Todgeweihter" (152). Die Doppelung des Testaments Jesu durch Joh 15/16 erklärt N. mit der durch das Drama eröffneten Möglichkeit, daß sich einer seiner Akteure auch direkt an das Publikum wenden kann: "Nachdem Jesus im joh Drama den Jüngern, die zu Lebzeiten bei ihm waren, sein Testament hinterlassen hat, tritt er gleichsam aus der Handlung heraus an den Rand der ’Bühne’ und richtet ein zweites testamentarisches Vermächtnis direkt an die nachösterliche Gemeinde" (153). Ich würde hier behutsamer formulieren: "... direkt an die virtuellen Leser des Evangeliums". Denn, wie W. S. Ong (The Writer’s Audience Is Always a Fiction: PMLA 90 [1975] 9-21) begründet ausgeführt hat, gilt von jedem Adressaten einer schriftlichen Äußerung, daß er die Fiktion von deren Schreiber ist. Und darauf, daß es ­ außer in sehr breiten und darum wenig nützlichen Generalisierungen ­ theoretisch unmöglich ist, von dem "Leser im Text" auf irgendwelche aktuellen Leser des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zu schließen, hat W. S. Vorster nachdrücklich aufmerksam gemacht (The Reader in the Text: Semeia 48 [1989] 21-39).

Ich kann nur hoffen, daß die Leser dieser Rezension ­ und auch von ihnen gilt ja Ong’s Diktum: The writer’s audience is always fictional ­ meine kritischen Anmerkungen zu dieser überaus anregenden Studie, die die Johannesinterpretation fraglos beleben und ihr Neuland erschließen wird, nicht als pures Widersprechen begreifen werden, sondern als den Versuch des Rez., N.s Herausforderung sachgemäß zu entsprechen. Denn dieser Herausforderer gehört zu den Wenigen, die entschlossen gegen den Strom gegenwärtiger Johannes-Scholastik schwimmen und das aktuelle Verstehen von Texten nicht mit dem Erklären von deren mutmaßlicher Genese identifizieren und beide verwechseln. Denn: "Die Geschichte erklärt, wie etwas nach und nach geworden; wie und was dieses Etwas sei, lehrt die Geschichte nicht. Was der Geschichte angehört, ist dem Leben abgestorben" (Anselm von Feuerbach; zitiert nach H. Schnädelbach, Vernunft und Geschicht,: stw 683, Frankfurt 1987, 126).