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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

445–447

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Léon-Dufour, Xavier

Titel/Untertitel:

Lecture de l’Évangile selon Jean. IV: L’heure de la glorification (chapitres 18–21).

Verlag:

Paris: Seuil 1996. 361 S. gr.8° = Parole de Dieu, 34. ISBN 2-02-030411-2.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Mit dem vorliegenden vierten Teil hat Xavier Léon-Dufours Auslegung des Johannesevangeliums, die seit M.-J. Lagrange (1936) umfangreichste dieses neutestamentlichen Buches in französischer Sprache, ihren Abschluß gefunden. Wie die vorausgegangenen Bände ( vgl. die Rez. des Vf.s ThLZ 113, 1988, 816-818; 116, 1991, 665-667) erscheint das Werk in der Reihe Parole de Dieu, der der Autor von ihrem Beginn an das Gepräge gegeben hat. Von den bisher 34 Titel stammen 12 aus seiner Feder oder sind direkt von ihm verantwortet, darunter seine auch in Deutschland beachteten Schriften über den historischen Jesus, über die Auferstehungsbotschaft und die Eucharistie, die nun sämtlich als Vorarbeiten dieses großen Kommentars erkennbar werden. Der seit langem in Centre Sèvre in Paris wirkende Jesuit ist vor allem der vom Geist der Schule von Lyon inspirierte Exeget; keinem wie ihm dankt die französische neutestamentliche Arbeit den Durchbruch von der Apologetik zur Spiritualität. Diese Haltung bestimmt wie die vorangegangenen Teile auch den Schlußband des Werkes. Er läßt die Auslegung der Väter, vor allem Origenes und Augustinus, zu Wort kommen; er konfrontiert die eigene Exegese weniger mit den französischen Vorgängern als mit den großen auswärtigen Interpreten des Johannesevangeliums in diesem Jahrhundert: R. Bultmann und R. Schnackenburg aus dem deutschen, R. E. Brown und E. Hoskyns aus dem englischsprachigen Bereich.

Die Proportionen entsprechen der in der Auslegung verdeutlichten Gliederung des Evangeliums. Fast die Hälfte nimmt der (erweiterte) Passionsbericht ein.

Während der ganze dritte Teil den Abschiedsreden galt, wird in dem vorliegenden vierten die Leidens- und Ostergeschichte zum Gegenstand tiefschürfender Exegese. Die gemeinsame Überschrift: L’heure de la glorification (Die Stunde der Verherrlichung) läßt den theologischen Grundakkord aufklingen. In einem einleitenden Abschnitt (18-24) werden die Präsentation (im Anschluß an 13,31-32), die Schriftbezogenheit (vgl. 3,14) und die textliche Struktur kurz skizziert. Daraus erwächst die gliedernde Trias, der dreifachen "Auslieferung" Jesu an die Juden (18,1-27), an die Heiden (18,28-19,22), an den Vater (19,23-42). Wie schon zuvor wird jedem der zahlreichen Unterabschnitte eine präzise Übersetzung vorangestellt, der die exegetische Entfaltung (ohne strenge Versbindung) folgt, während die Hinweise auf die Literatur zumeist in die Anmerkungen verbannt sind.

Der hermeneutischen Grundausrichtung entsprechend rücken Typologie und Symbolismus des Johannesevangeliums, die nicht nachträgliche Eisegesen altkirchlicher Ausleger darstellen, sondern vom Verfasser des Evangeliums selbst intendiert sind, in den Vordergrund. So steht der Hohepriester für das Judentum (49), Petrus repräsentiert die Leiter der Kirche (63), die Mutter unter dem Kreuz symbolisiert Israel, der Lieblingsjünger die Jüngerschaft (141-148). Bei anderen traditionell stark gewichteten Stellen ist deutliche Zurückhaltung erkennbar. Das gilt für den ungeteilten Rock 19,23 f. (130-132), aber auch für die auffallend knapp behandelte Öffnung der Seite des Gekreuzigten 19,44, wobei sowohl Einwände gegen die antidoketische als auch gegen die sakramentstheologische Deutung vorgetragen werden (163-170). Daß daneben die historischen Probleme nicht zu kurz kommen, zeigen die Ausführungen über die Kohorte (31 f.), den archiereus propheteuon (44), das ius gladii der Juden (78 f.).

Bei der Auslegung der Ostergeschichte wird das Nachtragskapitel an cap. 20 und das übrige Evangelium deutlich herangerückt. Strukturell denkt der Autor an eine Analogie zur Ergänzung der Abschiedsrede 14,1-31 durch den Komplex 15,1-17,26, also an eine sehr frühe, dem Grundevangelium auch sachlich nahe Redaktionsstufe. Dies stimmt zu der konservativen traditionsgeschichtlichen Sicht, die das ganze Kommentarwerk bestimmt. Demnach zeichnen sich drei Etappen ab: der Jünger-Zeuge und seine Schule, der Evangelist-Schriftsteller, der komponierende Redaktor. In der Einzelauslegung der beiden Kapitel besticht die Herausarbeitung der "Personalisierung" als spezifisches Merkmal der johanneischen Ostergeschichte (Maria Magdalena, Thomas, Petrus und der Lieblingsjünger). Für die am ökumenischen Dialog beteiligten Leser wird bei der Exegese von Joh 21,15-17 in der Bestimmung des Abstandes zu Mt 16,16-18 eine vorsichtige Abschwächung der lehramtlichen Auslegung in der Konstitution Pastor aeternus (D 3054 = Neuner-Roos 439) erkennbar, eine Tendenz, die schon bei R. Schnackenburg zu beobachten war.

Das Schlußkapitel zieht die Summe des Gesamtwerkes in prägnanten Thesen: Im Vergleich zu den Synoptikern modifiziert Johannes die Konzeption des Historischen. Inhalt des Evangeliums ist die Darstellung der Gegenwart Gottes in der Geschichte, die der Logos ist (der Prolog ist also kein Fremdkörper!). Jesus von Nazareth symbolisiert Gott, der Leser des Evangeliums wird hineingenommen in die symbolische Welt, die in und an Jesus zur Darstellung kommt. Die Schlußbemerkung, daß hier einer (legitimen) Theologie der Befreiung das Fundament dargeboten wird, läßt ein Verständnis dieses mißdeuteten Begriffs aufleuchten, das auch über den geschichtlichen Gezeitenwechsel hinaus, der die Abfassung des Kommentars begleitet hat, Bestand behält.