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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

443–445

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hoegen-Rohls, Christina

Titel/Untertitel:

Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XI, 349 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 84. Kart. DM 118,­. ISBN 3-16-146271-8.

Rezensent:

Johannes Beutler SJ

Seit den siebziger Jahren ist es in Deutschland wieder statthaft, "synchrone" Arbeiten zu den Evangelien vorzulegen. Die Vfn. nutzt den ihr eingeräumten Spielraum und legt eine faszinierende Studie zur hermeneutischen Rolle der Abschiedsreden innerhalb des vierten Evangeliums vor. Die Grundthese ist einfach: Der "nachösterliche" Standpunkt beherrscht nicht nur die Abschiedsreden selbst, sondern bestimmt das ganze vierte Evangelium. Nur wird der Blick für diese Beobachtung durch die aufmerksame Lektüre der Abschiedsreden geschärft. Freilich nähert sich die Autorin dieser Einsicht nur schrittweise. Am Anfang steht ein Forschungsüberblick über Versuche, die Voraussetzungen des Johannesevangeliums zu bestimmen (11-30).

Der eigene Ansatz der Vfn. setzt bei "Hinweise(n) im Textkommentar" des Johannesevangeliums ein, also Stellen, an denen der Verfasser des vierten Evangeliums ausdrücklich auf die "Erhöhung" oder "Erweckung" Jesu als Zeitpunkt für die Gabe des Geistes, das Verstehen u. ä. verweist (Joh 2,22; 12,16; 7,39; 20,9; 2,17). Es folgt eine Durchsicht einzelner "Verheißungen Jesu an die Jünger und an die Juden außerhalb der Abschiedsreden" (Joh 13,7; 1,50 f; 7,38; 8,31 f. 28). Erst dann werden die Hinweise auf den "Ort" des Berichterstatters in den Abschiedsreden an die Jünger im einzelnen ausgewertet. Abschnitte über das Gebet Jesu in Joh 17, über die "bekenntnishaften ’Wir’-Aussagen außerhalb der Abschiedsreden" sowie über "Geistaussagen außerhalb der Abschiedsreden" schließen sich an und führen zur Schlußbilanz.

Die wichtigste Vorentscheidung trifft die Vfn. bereits im Einleitungskapitel. Sie verzichtet bewußt auf die Rekonstruktion der literarischen Vorstufen des vorliegenden Johannesevangeliums sowie der auf es einwirkenden Quellen und Vorlagen, ja auch der biblischen oder außerbiblischen Traditionen, die dem vierten Evangelium zugrunde lagen, und läßt als "Voraussetzung" nur gelten, was sich als Lebenssituation der johanneischen Gemeinde z. Zt. der Entstehung des vierten Evangeliums am Text selbst ablesen läßt (vgl. 29 f.). Dazu gehört zum einen die Geisterfahrung der Gemeinde, zum anderen ihre Erfahrung des Konfliktes mit der "Welt". Beides sind Dimensionen der nachösterlichen Existenz der Gemeinde: "Der nachösterliche Standpunkt gilt daher im Sinne der vorliegenden Untersuchung als entscheidende Voraussetzung des vierten Evangeliums. Er ermöglicht die hermeneutische Perspektive des Rückblicks, aus der das vorösterliche und österliche Geschehen erzählt und dabei zugleich gedeutet werden kann. In der Perspektive des Rückblicks liegt daher das Potential, die nachösterliche Glaubenseinsicht in Form eines Evangeliums zur theologischen Aussage zu gestalten" (30). Zentrale Bedeutung kommt dabei den Parakletsprüchen der Abschiedsreden zu. Weit davon entfernt, entbehrliche Zutaten oder Hinzufügungen zu ihrem Kontext zu sein, bieten sie vielmehr den hermeneutischen Schlüssel nicht nur für die Abschiedsreden, sondern für das ganze vierte Evangelium.

Der Duktus der Arbeit überzeugt im ganzen. Es zeigt sich, daß die nachösterliche Perspektive in der Tat von Anfang an das vierte Evangelium beherrscht, ob es sich nun um die "Wir"-Aussagen im Prolog (266-274), die Verheißung von Joh 1,50 f. (59-66), die beiden Verweise innerhalb der Geschichte von der Tempelreinigung (33-36, 45 f.), das Zeugnis Jesu (und der Seinen) in Joh 3,11 (275-281) oder weitere Texte handelt. In den Blick kommt eine Gemeinde, die nachösterlich den Geist nicht nur erfährt, sondern auch prophetisch bekundet, und zwar sowohl retrospektiv als auch prospektiv (309). Die Gemeinde weiß sich dabei nachösterlich kraft ihres Geistempfangs sowohl mit Jesus und seinem Wort als auch mit dem Vater verbunden (ebd.). Dabei wird eine Relation zwischen Jesus, dem Geist und dem Vater sichtbar, die mit Recht trinitarisch genannt werden kann (310 u. ö.). Die Pneumatologie erweist sich dabei als hermeneutischer Schlüssel. Von ihr aus erschließen sich auch Ekklesiologie und Eschatologie des vierten Evangeliums (311 f.).

Die Unbekümmertheit, mit der hier souverän johanneische Theologie getrieben wird, wirkt schlicht befreiend. In der Tat scheint hier der perspektivische Punkt gefunden zu sein, von dem her sich das vorliegende Johannesevangelium am sinnvollsten und zusammenhängendsten erschließt. So ist der Gewinn ein doppelter: Literarisch läßt die vorliegende Arbeit von einem bevorzugten Punkt aus das Johannesevangelium als Einheit verstehen, theologisch erschließt sie ein Verständnis dieses Evangeliums von der Perspektive des Vf.s aus, die die einzelnen Dimensionen johanneischer Theologie in ihrer Verbindung aufzeigt.

Freilich verlangt diese Methodik ihren Preis. Die Beschränkung auf die synchrone Textbetrachtung hat zur Folge, daß innerbiblische Verbindungslinien nicht in den Blick genommen werden. So ist denn im Literaturverzeichnis (313) konsequent nur das griechische Neue Testament und gerade noch die Septuaginta unter den "Textausgaben" genannt. Der atl. Hintergrund johanneischer Schlüsselbegrifffe kann dann nicht in den Blick kommen. So wäre schon sehr grundlegend zu fragen, ob statt vom "nachösterlichen" Standpunkt des vierten Evangeliums nicht eher vom Standpunkt nach erfolgter "Erhöhung und Verherrlichung Jesu" (im Sinne von Jes 52,13 LXX) gesprochen werden sollte egeiro, auf die Auferweckung Jesu bezogen, begegnet im Johannesevangelium außer 2,19.20. 22 nur noch in 21,14; anistamai nur in 20,9). Nicht selten hilft der vergleichende Blick auf Wortfelder in atl. Traditionen, solche auch bei Johannes zu entdecken und so zusammengehörige Texteinheiten leichter auszusondern.

Ein Beispiel ist das Wortfeld von Gerechtigkeit, Frieden, Freude und Geistempfang, das sich in Joh 14,25-28 zeigt, in 16,4b-33 wiederkehrt und 20,19-23 aufgegriffen wird (zu den atl. Wurzeln dieses eschatologischen Motivfeldes vgl. meine Studie: Habt keine Angst, Stuttgart 1984, Kap. IV). Der Zusammenhang kommt synchron nicht ganz befriedigend in den Blick bei der Behandlung von Joh 14,25-29 (161-163), zu 16,16-33 (218 ff.) und zu 20,21-23 (292 f.) Bei den unterschiedlichen eschatologischen Perspektiven innerhalb von Joh 14 wird zwar der Perspektivwechsel von der Wohnung der Glaubenden bei Gott zum Wohnungnehmen Jesu und des Vaters bei den Glaubenden gesehen, aber die dabei zutage tretende Spannung zwischen einem älteren, vorjohanneischen Modell urchristlicher Wiederkunftserwartung und der johanneischen Reinterpretation wird doch wohl ein wenig zu stark heruntergespielt (vgl. 146-154, 160 f.). Eine Einbeziehung der Traditionskritik hätte vermutlich auch davor bewahrt, in Joh 11,33 und 13,21 eine vom Geist Gottes hervorgerufene Seelenregung Jesu zu vermuten (300 f.). Vielmehr klingt hier doch wohl Ps 42/43 an, wie andernorts wahrscheinlich gemacht wurde (vgl. NTS 25, 1979, 33-57). Auch das Motiv der "Freiheit" in Joh 8,31 f. (71-73) erschließt sich doch wohl am leichtesten von der Abrahamthematik her, die in Gal 4,21-31 aufgegriffen wird. Weitere Beispiele solcher traditionskritischer "Tiefenschärfe" ließen sich nennen. Sie helfen nicht nur bei der genaueren Semantik verwendeter neutestamentlicher Ausdrücke, sondern auch bei der Entdeckung von Wortfeldern, die allein vom neutestamentlichen Text her oft nicht deutlich genug in Erscheinung treten.

Eine letzte Anfrage betrifft den Sinn des in der Arbeit zugrundegelegten Begriffs "Hermeneutik". Die Autorin verwendet das Wort ausschließlich im Sinne der Perspektive des vierten Evangelisten. Die Leserschaft bleibt dabei zunächst aus dem Blick.

Freilich wird von deren Situation in der Welt keineswegs abgesehen. Vor allem an den Parakletsprüchen von Jo 15,26 f. und 16,7-11 wird aufgezeigt, daß die Gläubigen zum Zeugnis auch vor einem feindlichen Forum der Welt aufgerufen und dazu durch den Geist befähigt sind. Es wäre möglich gewesen, hier auch eine Brücke zu heutiger Leserschaft zu schlagen. Ansatzpunkt dafür könnte eine bewußt in den Blick genommene Pragmatik des vierten Evangeliums bilden. Sie würde dann nicht nur nach dem zeitlichen Horizont, sondern auch nach der Leserlenkung des Textes fragen. Ein schönes Beispiel hierfür bietet die Geschichte vom Blindgeborenen in Joh 9, die auch die Konsequenzen aufzeigt, zu denen das mutige Bekenntnis zu Jesus, dem Menschensohn, führen kann. Aber auch die Texte von der Wahl zwischen der Ehre von Menschen und vom alleinigen Gott kommen hier in Frage (Jo 5,41-44; 7,18; 12,42 f.). Wirkungsgeschichtlich führen hier durchaus Linien bis in die Gegenwart.