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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

440–443

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kraus, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XII, 443 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 85. Lw. DM 148,­. ISBN 3-16-146432-X.

Rezensent:

Walter Klaiber

Dieses Buch hat eine doppelte Zielsetzung. Die erste wird durch den Titel markiert. Es geht um den Nachweis, daß die atl.-jüdische Volk-Gottes-Tradition grundlegend für die Ekklesiologie des Paulus ist. Die zweite ergibt sich aus dem knappen I. Teil des Buches (§ 1 Einleitung: Israel und die Kirche im NT und heute; § 2 Problemhorizont: Kirche und Israel in der paulinischen Ekklesiologie, 1-11). Es geht um die weiterführende Frage: Wie kann die Kirche in der Tradition Israels Gottes Volk genannt werden, ohne damit das Judentum zu verdrängen oder zu enterben?

Untersucht wird diese Frage anhand der paulinischen Briefe, da in ihnen das Verhältnis von Israel und Kirche als Volk Gottes ausdrücklich thematisiert und zugleich durch die Rechtfertigungslehre pointiert in Frage gestellt scheint.

In einem kurzen Überblick über die Problemlage stellt K. in § 2 (vor allem anhand Gal 3,26-29) fest, daß sich "zwei Brennpunkte paulinischer Ekklesiologie... nachweisen" lassen: ein christologischer und ein erwählungsgeschichtlicher, der durch das Motiv des Gottesvolks markiert wird (10 f.).

Bevor K. aber die paulinischen Briefe im einzelnen heranzieht, behandelt er im II. Teil "Die Vorgeschichte in Israel: Zur Frage der legitimen JHWH-Verehrung durch Nicht-Israeliten und der Aufnahme von Heiden in das Gottesvolk" (12-110).

§ 4 untersucht "die Eingliederung von Heiden ins Gottesvolk oder deren Gleichstellung mit Israel in alttestamentlichen Texten" (16-44). Das Ergebnis lautet: Insbesondere für die nachexilische Zeit "läßt sich festhalten, daß sowohl im Zusammenhang der Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion, als auch abseits davon Texte existieren, die eine Eingliederung von Heiden in das Gottesvolk bzw. eine Gleichstellung im Blick haben" (42). Zugleich verweist K. darauf, daß in zeitlicher Korrespondenz zu dieser Strömung die "partikularistischen Bestrebungen Esras und Nehemias" als "theologische Antithese dazu" festzustellen sind.

Sehr ausführlich behandelt K. dann in § 5 "Möglichkeit und Grenze der Erweiterung des Gottesvolks in frühjüdischen Texten" (45-95) und in § 6 "Die zeitgenössische Praxis der Integration von Heiden ins Gottesvolk" (96-107). Auch hier ist das Ergebnis "keine einhellige Lösung, sondern wiederum eine Bandbreite von Konzeptionen" (108). Neben einer vorsichtigen Öffnung für die Fremden im Diasporajudentum (in der Regel allerdings unter den Bedingungen der Übernahme der überlieferten Gesetze) steht eine klare Tendenz zur Abgrenzung, insbesondere im Einflußgebiet der Qumrangruppe.

Der III. Teil ist der Analyse paulinischer Texte gewidmet (111-346). Er beginnt mit einem kurzen Überblick "Zur ekklesiologischen Semantik bei Paulus" (§ 8, 111-119). Dieser führt zu einer doppelten Feststellung: "Zum einen ist die Begrifflichkeit Pauli über weite Strecken aus dem Bereich der Gottesvolkthematik bzw. dem Selbstverständnis Israels übernommen, zum anderen erfolgt die Übernahme nicht ohne bestimmte Modifikation: Sie ist stets ’in Christus’ oder ’durch Christus’ vermittelt" (118). Im Blick auf die Frage, welche der beiden Linien grundlegend für die paulinische Ekklesiologie ist, legt K. seiner Untersuchung die "Arbeitshypothese zugrunde, daß die Gottesvolkthematik, wenn auch nicht immer sofort terminologisch sichtbar... dennoch einen entscheidenden Hintergrund der paulinischen Theologie bildet" (119).

Diese Hypothese leitet die folgende Durchsicht der pln. Briefe in ihrer vermutlichen historischen Reihenfolge. § 9 behandelt "Die Gleichstellung der Heiden mit dem Gottesvolk aufgrund der Erwählung durch das Evangelium im 1. Thessalonicherbrief" (120-155). Die Überschrift nimmt das Ergebnis vorweg: K. möchte aufzeigen, daß die wichtigsten Themen des Briefes, die Erwählung zur ekklesia, die Berufung zur basileia, die Darstellung des christlichen Lebens als agiasmos und die Gabe des endzeitlichen Gottesgeistes, alle in den Rahmen der atl. Gottesvolkvorstellung gehören und somit die Kontinuität der christlichen Gemeinde mit dem atl. Gottesvolk aufweisen. "Die Kontinuität des Gottesvolkes bleibt in der Diskontinuität sichtbar. Die Kirche ist keine Schöpfung aus dem Nichts" (154).

Der § 10 ist überschrieben: "Die Ekklesia aus Juden und Heiden als endzeitliches Gottesvolk nach dem 1. Korintherbrief" (156-196). K. sieht in Begrifflichkeit und Motivauswahl die Linie des 1Thess fortgesetzt. Die christologische Begründung der Aussonderung durch Gott wird stärker betont und mit der Leib-Christi-Vorstellung in 1Kor 12 "funktional die Einheit der Gemeinde" beschrieben. "Identität und Wesen der Gemeinde" wird aber weiter durch "Epitheta ausgedrückt, die ursprünglich dem Gottesvolk Israel zugehören" (195). "D. h. die Gottesvolk-thematik bildet den bleibenden Hintergrund der paulinischen Ekklesiologie, die Leib-Christi-Vorstellung wird aus einem aktuellen Anlaß entwickelt. Wenngleich die Gottesvolkthematik vordergründig eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, bildet sie doch die unabdingbare Voraussetzung paulinischer Argumentation" (ebda.).

Zwischen zwei sehr knapp behandelten Teilen des 2Kor (§11: Kap. 10-13 und § 13: Kap. 1-8) steht der Gal (§ 12: "Die Glaubenden als Söhne Gottes, Nachkommen Abrahams und Erben nach dem Galaterbrief"; 202-254). Thema des Gal ist die Frage, wer zum Gottesvolk, "zum Samen Abrahams" gehört. Die "erstmalige begriffliche Formulierung der paulinischen Rechtfertigungslehre" steht daher im Dienst der "Aufhebung des erwählungsgeschichtlichen Unterschieds zwischen Juden und Heiden" und der "Eingliederung der Glaubenden in das Gottesvolk" (213).

Wird somit im Gal "die Bedeutung des Gottesvolkmotivs für die paulinische Ekklesiologie... terminologisch eindrucksvoll bestätigt", so tritt neu hinzu eine "konsequent christozentrisch durchgeführte Position. Durch die Engführung der Verheißung an Abraham auf den einen Erben, Christus,... bleibt kein Raum mehr für eine selbständige Qualität Israels post Christum natum" (252). Diese Argumentationsweise ist durch die Kampfsituation in Galatien bestimmt und wird im Römerbrief als vorläufig erwiesen.

Davon handelt § 14: "Juden und Heiden unter der Verheißung Gottes nach dem Römerbrief" (269-333). K. sieht im Röm drei Aspekte der Gottesvolkthematik: "Zum einen sind analog den bisherigen Paulusbriefen Aussagen zur Gleichstellung von Juden und Heiden zu verzeichnen. Zum zweiten wird über die bisherigen Ausführungen hinaus die bleibende Erwählung Israels im Röm eigens thematisiert. Zum dritten bietet der Röm eine die Ansätze im Gal weiterführende Neufassung des Gottesvolkthemas im Rahmen der Rechtfertigungslehre" (271 f.).

Die schwierigen Verse 4,12.16 weisen darauf hin, daß Paulus "das Fundament einer Neudefinition des Gottesvolkes legt. Diese Definition schließt Israel nicht aus, aber ebenso die glaubenden Heiden mit ein" (283). Die bleibende Erwählung Israels wird in Röm 9-11 thematisiert und dabei zugleich "die Neufassung des Gottesvolksthemas im Blick auf Israel aufgrund der Rechtfertigungslehre" umrissen (290; das Ergebnis wird auf S.326 eindrücklich zusammengefaßt). Röm 15,7-13 nennt den Zielpunkt des Röm: "Das gemeinsame Gotteslob von Juden und Heiden angesichts des durch Christus verbürgten Heils" (332).

Ein letzter kurzer Abschnitt ist § 15: "Das himmlische Bürgerrecht nach dem Zeugnis des Philipperbriefes" (334-346). K. sieht einerseits die Grundlinien seiner bisherigen Auslegung bestätigt. Paulus versteht auch im Phil "den Status der christlichen Gemeinde analog dem Selbstverständnis des Gottesvolkes Israel" (346). Daß er zugleich "Kennzeichen jüdischer Identität selbst als sarkisch und daher heillos" darstellt (Kap. 3), ist polemische Überspitzung und kann "die theologisch abgewogene Darstellung in Röm 9-11 nicht... zunichte machen" (ebda).

Ein IV. Teil faßt den Ertrag der Arbeit zusammen (341-361).

Die Arbeit von K. stellt eine sorgfältige Untersuchung des gewählten Themas dar. Die unübersehbare Literatur (54 Seiten Literaturverzeichnis!) wird in sinnvoller Auswahl behandelt. Der Vf. diskutiert die anstehenden Fragen sehr viel differenzierter, als dies die knappe Inhaltsangabe sichtbar werden läßt. Insbesondere die Auslegung des Röm ist hilfreich und treffend, und die Schlußzusammenfassung bildet ein ausgewogenes Urteil über viele der behandelten Fragen.

Gerade deswegen muß über einige grundlegende Aspekte der Arbeit mit dem Vf. ein kritisches Gespräch gesucht werden (zum Teil in Fortsetzung seiner Diskussion mit Thesen des Rez.). Dabei geht es vor allem um zwei Punkte: Die Frage nach dem Verhältnis der "christologischen" und der "erwählungsgeschichtlichen" Linie in der Ekklesiologie des Paulus ist weiter offen. K. möchte zeigen, daß die heilsgeschichtliche Linie grundlegend ist; er tut dies nicht selten dadurch, daß er die Bedeutung der christologischen Linien geringer einschätzt. Dabei sind seine Argumente nicht immer konsistent. Ein Symptom dafür ist die eigenartige Behandlung der Terminologie. Einerseits provoziert ihn das statistische Ergebnis zu der Frage: "Kann ein ekklesiologisches Bild, wie das vom Leib Christi, das explizit nur an zwei Stellen erscheint, zur zentralen Vorstellung erklärt werden" (118)? Andererseits stellt er zwei Sätze später fest, "daß die Gottesvolkthematik, wenn auch nicht immer sofort terminologisch sichtbar ­ vgl. die Anwendung von laos theu auf die Ekklesia, die nur in den Zitaten 2Kor 6,16 und Röm 9,25 f. erfolgt ­ dennoch einen entscheidenden Hintergrund der paulinischen Theologie bildet... Dabei gilt es, nicht nur statistisch zu zählen, sondern theologisch zu wägen" (119)! Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen und die "Leit-Motiv-Funktion", die dem Begriff Volk Gottes zugebilligt wird, dem Begriff Leib Christi verweigert.

Das weist auf eine tieferliegende Problematik: Obwohl K. an bestimmten Stellen die Bedeutung der christologischen Begründung der Gemeinde herausstellt (z. B. zu Gal 3,26-28; 6,15; 2Kor 5,17), wird ihre durchgehende und tragende Bedeutung verkannt. So wird das ekklesiologische Gewicht der Formel "in Christus" nur punktuell angedeutet, aber nicht kontinuierlich entwickelt, was die Erfassung der Ekklesiologie der Kor oder des Phil wesentlich beeinträchtigt. Die "Komplementarität" der beiden Motive, von der K. in der Zusammenfassung zu Recht spricht (351), wird in der Einzelexegese nicht genügend greifbar. So kann K. auf S.183 in Auseinandersetzung mit Käsemann feststellen, es sei unangemessen, "hinsichtlich der paulinischen Ekklesiologie eine Alternative zwischen Leib-Christi- und Gottes-Volk-Konzept zu sehen", selber aber auf S. 184 im Blick auf die Bedeutung der beiden Motive bei Paulus formulieren, "Grundlage seiner Ekklesiologie ist die Überzeugung, daß die Ekklesia das endzeitliche Gottesvolk darstellt".

Dies führt zur zweiten Anfrage an K. Ist für Paulus die Formel der "Gleichstellung der Heiden mit dem Gottesvolk" bzw. der "Eingliederung der Glaubenden in das Gottesvolk" wirklich adäquat? Es ist nicht zu bestreiten, daß Paulus in 1Thess oder 1Kor eine Fülle von Motiven verwendet, die der atl.-jüdischen Tradition entnommen sind. Aber geschieht dies unter dem Vorzeichen, die Gleichstellung der Heiden bzw. ihre Eingliederung ins Gottesvolk zu begründen oder sind dies sprachliche Mittel, durch die Paulus sehr viel unmittelbarer die Beziehung der christlichen Gemeinde zu Gott, wie sie in Jesus Christus begründet ist, darstellen will? Die Frage stellt sich noch verschärft angesichts der Ausführungen im Gal. Kann man von der "Eingliederung der Glaubenden in das Gottesvolk" sprechen, wenn grundsätzlich allein den Glaubenden Zugehörigkeit zu Abrahams Same verheißen ist? K. stellt selber fest, "daß Paulus an keiner Stelle von einer Integration der Heiden in den Bund Gottes mit Israel ausgeht" (360).

Darin zeigt sich nun freilich wieder die Qualität dieser Arbeit. Die Genauigkeit der Einzelbeobachtungen bildet ein Korrektiv zur Tendenz, die Dialektik des paulinischen Kirchenverständnisses zu unterdrücken, um die Stringenz der eigenen Arbeitshypothese zu beweisen. Hier aber liegt die grundsätzliche Anfrage an K.: Verdrängt nicht das Interesse an der Kontinuität die Dimension der Neuschöpfung und Neubegründung der Gemeinde in Christus?