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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

435–437

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dörrfuß, Ernst Michael

Titel/Untertitel:

Mose in den Chronikbüchern. Garant theokratischer Zukunftserwartung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1994. XIII, 302 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 219. Lw. DM 148,­. ISBN 3-11-014017-9.

Rezensent:

Thomas Willi

Die Untersuchung, eine Dissertation aus der Schule von P. Welten in Berlin, stellt ­ nach Kim Strübind ­ einen weiteren gewichtigen Beitrag zum Verständnis der Chronikbücher und zur Geschichte ihrer Erforschung dar. Sie behandelt zwei unter sich nur lose verbundene Themen: einmal die Geschichte des Begriffs der "Theokratie" (vgl. den soeben erschienenen entsprechenden Artikel des Vf.s in EKL 4, 1996, 731-733) und seines Gebrauchs in der Interpretation der Chr seit dem 18. Jh. (18-111), sodann, dem Titel entsprechend, das Mosebild der Chronikbücher (119-283).

Im ersten Teil werden gewisse Hypothesen, die die moderne Auffassung der Chronikbücher belasten, kritisch unter die Lupe genommen. Die knappe Einleitung plädiert (nach S. Japhet, H. G. M. Williamson u. a.) dafür, von einem Chr und Esr-Neh umfassenden (groß-)chronistischen Geschichtswerk abzusehen. Gemeinsamkeiten beider Bücher lassen sich, nach P. Welten, durch traditions- und theologiegeschichtliche Zusammenhänge hinreichend erklären (12). Ebenfalls mit P. Welten wird die Abfassung von Chr in frühhellenistischer Zeit angesetzt (13 f.).

Von höchstem Interesse ist der erste Hauptteil über den Theokratiebegriff. Die von Aufklärung und Deismus geprägte, in ihrem Ursprung antiklerikale Konzeption beschreibt noch bei W. M. L. De Wette die gesamte Literatur des ATs, die in "theokratisch-historisches" und "theokratisch-begeistertes" Schrifttum eingeteilt wird (20). Die Chr wird hier zur ersteren Kategorie gerechnet, aber im Gegensatz zu anderen Korpora des ATs bleibt das Etikett an ihr haften. Bei J. Wellhausen wird ­ v. a. im Blick auf Chr ­ "die Theokratie bzw. Hierokratie als unnatürlich-tote Idee disqualifiziert" (68). Ganz auf dem hier allerdings positiv gefaßten Theokratiebegriff baut dann 1911 die systematisch angelegte Dissertation von Jelte (nicht Jelten!) Swart auf. Dem 1955 erschienenen Chr-Kommentar von W. Rudolph zufolge will das chr Geschichtswerk "die Verwirklichung der Theokratie auf dem Boden Israels schildern" (18). Der beeindruckende tour d’horizon zum Gebrauch des Begriffs "Theokratie" ante et post (hier v. a. M. Buber, der sich gegen die Gleichsetzung von Theokratie und Hierokratie wehrt) Wellhausens erbringt den Schluß: Der Theokratiebegriff bewährt sich nicht als Deutekategorie für die Chronikbücher. Die Chr ist nicht die antieschatologische Parteischrift, als die sie bei W. Rudolph, O. Plöger und A. H. J. Gunneweg erscheint (280). Genausowenig ist sie freilich eschatologisch ausgerichtet (gegen J. Hänel, G. von Rad und neuerdings etwa R. Mosis).

Je eindrücklicher und überzeugender die negativen Resultate dieses ersten Hauptteils wirken, um so mehr drängt sich die Frage auf: Wenn nicht "Theokratie", was dann? Um es vorwegzunehmen: Der zweite Hauptteil erscheint dem Rez. nicht als Antwort auf diese Frage, sondern eher als eine Spur, die zu einer solchen führen könnte.

Es handelt sich um eine "Untersuchung der einzelnen Perikopen, in denen der Name des Mose genannt wird" (119), nämlich 1Chr 5,27-41; 6,33-34, 15,11-15; 21,26b-22,1; 22,7-13; 23,6(b)-23; 26,20-28; 2Chr 1,2-6; 5,2-10; 8,12-16; 23,16-21; 24,4-14; 25,1-4, 30,13-21; 33,1-9; 34,8-21; 35,1-19. Diese Abschnitte werden übersetzt, gegliedert, innerhalb Chr verortet und nach Parallelen und möglichen Quellen befragt, um dann über den Aufbau und die Zuordnung das Ziel zu erreichen, das sich die Untersuchung gesteckt hat: Das eigenständige Profil der chr Moseabschnitte soll herausgearbeitet und anhand der vorkommenden Leitworte kritisch überprüft werden. Als Resultat schält sich eine "Gegenüberstellung von David und Mose" (278) heraus. Diesen Tatbestand festgehalten zu haben, bleibt auf jeden Fall das Verdienst der Untersuchung, gleichgültig wie man ihn interpretieren mag.

Grundsätzlich bleiben immerhin zwei Möglichkeiten offen: Entweder hält man die Bipolarität David ­ Mose für eine Sichtweise, die schon dem ja stark musivisch arbeitenden chr Grundwerk eignet, oder man bewertet mit dem Vf. die Spannung als derart gravierend, daß man auf eine spätere "Kritik am davidischen Königtum und am Jerusalemer Tempel" (279) glaubt schließen zu müssen. Hier bleibt ein Ermessensspielraum. Das tritt klar zutage, wenn man bedenkt, daß der neue Chr-Kommentar von H. G. M. Williamson (1982, New Century Bible) von den in Rede stehenden Moseperikopen nur gerade 2Chr 24,4-14 für sekundär hält (ähnlich der Kommentar von S. Japhet, 1993 OTL, der dem Vf. freilich noch nicht zur Verfügung stand). Der Vf. selbst bezieht sich hin und wieder auf eine an sich anders ausgerichtete Arbeit, in der der Rez. beiläufig auf "Zusätze levitischer Prägung" hingewiesen hat (FRLANT 106, 194-204).

Es ist hier der Ort festzustellen, daß dem Rez. heute im Zweifels- oder Konfliktfall die Abgrenzungen und Zuordnungen der vorliegenden Untersuchung plausibler als die ehemals vertretenen eigenen erscheinen ­ wenn es denn möglich ist, in einem derart von der biblischen Tradition getränkten Werk wie Chr solche Unterscheidungen schlüssig vorzunehmen. Gerade wenn man dem Vf. zu folgen geneigt ist, brechen weitere Fragen auf:

"Kritisiert die ’Mosebearbeitung’" wirklich so ohne weiteres "das Königtum der Vergangenheit und die an diesem orientierte Zukunftserwartung" (279), als "Reaktion etwa auf... die Makkabäer" (283) ­ reicht nicht als Motiv eine gesamtbiblisch orientierte Sicht völlig aus, die den Pentateuch als verbindliche Tora stärker einzubeziehen wünschte? Das würde bedeuten, daß allerdings eine gewisse Zeitspanne zwischen dem chr Grundwerk und dieser ­ nach dem der Vf. z. T. in ihrerseits bereits sekundäre Partien eingreifende ­ Mosebearbeitung verstrichen wäre und daß sich das geschichtliche und geistige Umfeld erheblich gewandelt hätte. Das scheint dem Rez. aber gerade dann gegeben, wenn das Grundwerk und seine Betonung königlicher Kultfürsorge früher anzusetzen wäre als in der Ptolemäerzeit, in der auch Jerusalem nach ägyptischem Vorbild gewisse Tendenzen zu einem Tempelstaat aufwies.

Die in der vorliegenden Untersuchung erzielten Resultate trügen so noch stärker dazu bei, die innerhalb des ATs eigenständige Sicht des chr Grundwerks klarer hervortreten zu lassen. Ihr ist das davidische Königtum nicht weniger als Kern und Keim eines umfassenden, zu verschiedenen Zeiten durch je verschiedene Herrscher und Reicheausgeübten "Königreichs JHWH’S". Damit schließt sich auch der Bogen, den diese wichtige Studie mit ihren beiden Teilen spannt.