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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

433 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lessing, Theophil

Titel/Untertitel:

De Religionum Tolerantia. Über die Duldung der Religionen. Hrsg. u. eingel. von G. Gawlick u. W. Milde.

Verlag:

Wolfenbüttel: Lessing-Akademie; Göttingen: Wallstein 1991. 92 S. m. Abb. gr.8° = Kleine Schriften zur Aufklärung, 2. Kart. DM 32,­. ISBN 3-89244-022-0.

Rezensent:

Walter Sparn

Das Pathos religiöser Toleranz verbindet man gewöhnlich mit dem Enkel Gotthold Ephraim; doch schon über hundert Jahre vor dem "Nathan" hat der Großvater Theophil das Thema in einer kurzen juristischen Übungsdisputation am 24. März 1669 behandelt (in einer Pfarrerbibliothek wiederentdeckt und auf deutsch veröffentlicht übrigens von dem Pfarrer Carl Meusel 1881). Der Abstand ist freilich unübersehbar, denn der Leipziger Student der Jurisprudenz und spätere Ratsherr in Kamenz lehnt unterschiedslose Religionsfreiheit, wie sie bald von B. Spinoza, P. Bayle oder J. Locke postuliert werden sollte, entschieden ab. Umso deutlicher wird, was im Kontext lutherischer Territorialstaatlichkeit und politischer Theoriebildung nach J. Bodin, J. Lipsius oder H. Conring zur Diskussion gestellt werden konnte. Über den reichsrechtlichen, aber unsicher und strittig bleibenden Zustand der Duldung dreier christlicher Konfessionen hinaus fragt L., "ob die Obrigkeit verschiedene Religionen dulden könne"? Nach den schlimmen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zielt L. auf ein Verhältnis von Staat und Kirche, das religiöse Verfolgung und Religionskriege vermeiden hilft.

Die Thesenreihe verfährt schulmäßig. Sie bestimmt die Begriffe "Obrigkeit" (mit J. Thomasius), "Toleranz" und, für diese Zeit besonders interessant, "Religion" (mit W. Leyser, gegen R. Bellarmini) in ihrem philosophischen Gebrauch. Dann wird der Streitpunkt fixiert, was einige Optionen von vornherein ausschließt: die Einführung einfacher libertas religionis, staatlichen Synkretismus oder Religionswechsel, aber auch, das seinerzeit wichtigste Intoleranzargument unterlaufend, die Belehrung der Un- und Falschgläubigen durch den Staat (officia discernere II 6!). Seine These: Duldung aller von der wahren christlichen (lutherischen) Religion dissentierender Religionen um des öffentlichen Friedens willen, beweist L. sodann mit einem naturrechtlichen Argument: Religionen gehören zum Völkerrecht (mit H. Grotius), und vor allem mit einem politischen Argument: Duldung hat mehr Ruhe und Frieden zur Folge als gewaltsame Unterdrückung. Schließlich widerlegt der Jurist, der sich zwar keiner Metabasis schuldig machen will, doch außer dem politischen Gegenargument aus den üblen Folgen der Religionsduldung auch das theologische Intoleranzargument aus Ex 20,3, Lk 11,23 u. a., indem er unterscheidet zwischen Unruhestiftern und Irrenden (für diese gilt: ides suadenda non imperanda; seit Cassiodor ein Topos der Toleranzliteratur), zwischen tolerantia und approbatio, sowie zwischen absolutem und relativem, z. B. zeitlich beschränktem Verbot.

Ist dieser Text als solcher der Lektüre wert, so stellt die vorliegende Ausgabe ein Muster dessen dar, was im akademischen Unterricht heutzutage gebraucht wird. Sie druckt den zehnseitigen Text ab (die Widmungsseite fehlt); die neue Übersetzung (nachgestellt) ist gut lesbar, gelegentlich etwas frei, besonders bei Fachausdrücken (quaestio mixta: Grenzfrage I 7; methodus: Art zu behandeln, Plan Praef., II 1, IV 1). Exakt werden Zitate und Anspielungen nachgewiesen und erläutert, mögliche Zusammenhänge werden benannt, z. B. J. Gerhards Traktat zur selben Frage (1604), den L. wohl über Chr. Besold oder D. Reinkingk kannte. Die bio-bibliographische Einleitung von Wolfgang Milde ist auch sozial- und frömmigkeitsgeschichtlich aufschlußreich; sie situiert die Disputation in der noch wenig erforschten Toleranzdiskussion zwischen D. V. Coornhert und J. Ch. Gottsched. Ihren ideengeschichtlichen Kontext und die Originalität ihrer These charakterisiert erhellend und genau einer der besten Kenner der Thematik: Günter Gawlick; fair auch seine kritische Würdigung dieser konservativen Auffassung der cura religionis. In der Tat lehnt L. die völlige Trennung von Staat und Kirche ab, aber ebenso jeden politischen Zugriff auf den Glauben ­ eine Auffassung, die schon den Dank für die tolerantia Dei diversa sentientium (IV 16) einschließt.