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Ausgabe:

Mai/1997

Spalte:

430–432

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Laube, Johannes [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neureligionen: Stand ihrer Erforschung in Japan. Ein Handbuch. Zsgest. von I. Nobutaka u. a.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 1995. XVIII, 379 S. gr.8° = Studies in Oriental Religions, 31. Pp.DM 140,­. ISBN 3-447-03508-0.

Rezensent:

Martin Repp

Mit der Übersetzung dieses Handbuches hat Laube dem deutschsprachigen Leser ein Standardwerk religionswissenschaftlicher Forschung in Japan zugänglich gemacht. Das Handbuch gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung japanischer Neureligionen, daher darf man hier in erster Linie nicht ausführliche Informationen zu ihnen selbst erwarten. Sie haben durch ihr explosionsartiges Anwachsen, diverse Skandale und Vorfälle wie die Giftgasanschläge 1994 und 1995 auch im Westen immer wieder Beachtung gefunden, und durch ihre internationale Ausbreitung sind sie schon lange nicht mehr auf Japan begrenzt.

L. gibt drei Gründe für die Übersetzung dieses Werkes: Sie soll deutschsprachigen Lesern einen "Überblick über die Fragestellungen" und "Lösungen" der japanischen Forschung geben. Die Einsichten der japanischen Forschung sollen dazu helfen, in den Konflikten sachlich zu vermitteln, die durch das Missionieren der japanischen Neureligionen in Europa entstehen; es soll eine Position jenseits von "mystifizierende[n] Selbstdarstellungen" und einseitigen "Verurteilungen Außenstehender" aufgezeigt werden. Schließlich soll diese Übersetzung zeigen, daß sich immer deutlicher eine "Konvergenz der Fragestellung der japanischen und ausländischen Erforscher von Neureligionen aller Art und aller Kontinente" abzeichnet (XIf.). Demgegenüber geben die Vff. den Zweck ihrer Veröffentlichung damit an, die bisherigen Forschungsergebnisse systematisch zu ordnen, deren "problematische Punkte" zu erheben, und Richtungen für zukünftige Arbeit zu weisen (XIII).

Das Handbuch besteht aus vier Teilen: 1. "Ausgangspunkt der Erforschung der Neureligionen", 2. "Annäherung an das Forschungsgebiet", 3. "Untersuchungsmethoden und grundlegende Materialien", und 4. Anhang mit Literaturverzeichnis und Index.

Teil 1 gibt einen Überblick über die bisherige Forschung sowie über die vorliegende wissenschaftliche Literatur.

Kap. 1 referiert verschiedene Theorien zum Begriff "Neureligion"; es wird jedoch auf eine ausführliche Erörterung verzichtet. Die Vff. definieren ihn allgemein so: "’Neureligion’ sind alle diejenigen Bewegungen, die seit dem Ende der Regierungszeit des Tokugawa-Bakufu [d. h. seit der Mitte des 19. Jh.s] vom Volk selbst hervorgebracht und von den bisherigen Forschern als ’Neureligion’... behandelt oder erwähnt wurden" (XIII f., cf. 20). Es wird dann auf das Problem der negativen Bewertung der Neureligionen eingegangen, die (vor allem vor dem Krieg) durch staatliche Behörden, dann aber auch von Psychopathologen, Medien und etablierten Religionen vorgenommen wurde und die öffentliche Meinung wie auch die Forschung beeinflußt hat. Anschließend die "Typisierung und Klassifizierung": Neureligionen leiten sich vom Shinto her, von buddhistischen Schulen, aus religiösen Bruderschaften, aus der Bergreligion (Shugendo) sowie aus volksreligiösen Wurzeln (Schamanismus etc.).

Es muß unterschieden werden zwischen denjenigen Bewegungen, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg entfalteten, und denjenigen, die danach aufblühten, den sog. "neuen Neureligionen" (shin-shinshukyo). Bei den älteren Gruppen läßt sich bereits der interessante Prozeß der Institutionalisierung beobachten. Zum Abschluß des Kapitels werden folgende Desiderate der Forschung angegeben: die Quellenkritik konsequenter verwenden, das Denken der Neureligion stärker berücksichtigen, mehr religionsvergleichende Untersuchungen (insbesondere mit nichtjapanischen Neureligionen) durchführen sowie den Adaptionsprozeß untersuchen, durch den japanische Neureligionen sich im Ausland verbreitet haben.

Kap. 2 listet die grundlegende Forschungsliteratur auf, und zwar Quellenmaterial (heilige Schriften, Stifterbiographien, Lehrbücher etc.) sowie wichtige Sekundärliteratur (Einführungen, Geschichte etc.), jeweils unterschieden nach religionsinternen und -externen Veröffentlichungen.

Der umfangreiche Teil 2, die "Annäherung an das Forschungsgebiet", behandelt die Entstehung von Neureligionen (Kap. 1), ihr Denken (Kap. 2), ihre Organisationen (Kap. 3), die Bekehrung zu einer Neureligion (Kap. 4), ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft (Kap. 5) sowie Perspektiven vergleichender Forschung (Kap. 6).

In Kap. 1 wird gefragt, worin die Neuheit der Neureligionen gegenüber traditionellen Religionen eigentlich bestehe und wie ihre Entstehung erklärt werde. Die Untersuchungen zum "Sekten-Shinto" haben gezeigt, daß die dazu zählende ältere Generation der Neureligionen (Tenrikyo, Konkokyo, etc.) im Gegenüber zu stagnierenden etablierten Religionen und inmitten einer gesellschaftlichen Übergangszeit (von der Tokugawa zur Meiji-Zeit Mitte des 19. Jh.s) aus dem "Offenbarungserlebnis" eines Stifters, d. h. aus dem Volk heraus, entstand. Sozialgeschichtliche Untersuchungen haben die Entstehung von Neureligionen aus dem Widerspruch zur Veränderung der Gesellschaft infolge der Öffnung zum Westen, der Modernisierung bzw. Industrialisierung Japans erklärt. Die Vorstellung der "Welterneuerung" (yonaoshi), wie sie sich etwa bei Deguchi Nao, der Stifterin von Omotokyo, findet, ist als Kritik an diesen gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen. Forschungen zum Volksglauben haben sich bei der Untersuchung der Entstehung einer Neureligion stärker auf die Stifterperson konzentriert, sowie auf die Geistesbesessenheit (kamigakari) oder den Schamanismus. Nach dem Krieg sind diese drei (sich auf Denken, Sozialgeschichte und Volksglauben konzentrierenden) Forschungsrichtungen in eine zusammengeflossen, "die den Charakter der sozialen Erfahrung eines Stifters als eines Mitglieds der Volksmasse zu klären, den Inhalt des Glaubens der Stifter aus ihrer Beziehung mit dem Volksglauben als ihrer Basis zu begreifen, d. h. die Bedeutung ihrer [Lebens-] Erfahrung und ihres Glaubens mit Einfühlung zu verstehen versucht". Damit ist ein "immanentes Verstehen" ermöglicht (76). Die neuen Neureligionen unterscheiden sich von den Neureligionen dadurch, daß sie "keine Stifter vom Typ des Schamanen, sondern rationale Stifter" besitzen und nicht die Landbevölkerung, sondern "die städtischen Massen zur Basis" haben (79).

Kap. 2, "Denken der Neureligionen", wendet sich gegen das verbreitete Vorurteil, ihre Lehren seien nicht sehr tief. Zunächst einmal wird das Denken der Neureligionen nach ihren "Abstammungslinien" aus Shinto und Buddhismus erklärt. Demgegenüber betont eine neuere Forschungsrichtung das Denken der Neureligionen als "Denken des Volkes". Neureligionen vermögen die Massen zu mobilisieren, weil sie ihnen "Lebensregeln" in einer Zeit der Auflösung und Umstrukturierung der Gesellschaft anbieten. Neureligionen nehmen die Angst vor einer "aussichtslosen Zukunft" und vor "gesellschaftlichem Absturz", sodaß die sich auf gesellschaftliche Veränderung richtende Energie neutralisiert wird. Auf diese Weise funktionieren sie systemstabilisierend. Das spiegelt sich in ihren autoritär strukturierten Organisationsformen wider (90f.). Durch ihre Opposition zur westlichen "Zivilisation" erhalten sie oft auch einen nationalistischen Charakter. Durch gesellschaftlichen und staatlichen Druck schließlich gleicht sich auch ihr anfänglich oft revolutionäres Denken durch Rationalisierungen etc. dem Establishment an.

Kap. 3 behandelt zunächst die "Entwicklung der Bewegungen der Neureligionen". Der Bewegungsverlauf kann durch Tendenzen zur Lehr-Ausbildung, Institutionalisierung, Vererbung des Leitungsamtes und zu erneutem religiösen Aufbruch gegenüber der eigenen Institutionalisierung führen (124). Dabei tritt ein Widerspruch zwischen irrationaler Begründung von Glauben und rational durchgeführter Organisation in den Neureligionen auf (130). Anschließend wird der "Gestaltwandel der Organisationen" behandelt.

Kap. 4 erörtert die "Annahme einer Neureligion" durch das Individuum und dessen "Haltungsänderung". Es geht hier um die "Innenwelt" des Gläubigen, welche soziologisch, sozialpsychologisch und psychiatrisch untersucht wird. Gegenüber der Vereinsamung in der modernen Gesellschaft bieten Neureligionen Möglichkeiten zu Kommunikation und neuer Gemeinschaft an. Ihre Krankenheilungen werden heute allgemein "als eine Art seelische Heilung in Gruppen" aufgefaßt (152). Die Einrichtung von kleinen Gruppen zwecks religiös-therapeutischer Gespräche spielen in den Neureligionen eine große Rolle.

Kap. 5 behandelt das Verhältnis von Neureligionen und Gesellschaft, insbesondere ihre Beziehung zu Staat und Regionalgesellschaft. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges finden sich einerseits (infolge des Tenno-Systems und des Staats-Shinto) Unterdrückung und Gleichschaltung der jungen Bewegungen, und Angleichung und Kooperation andererseits (173) (siehe etwa Tenrikyo und Omotokyo). Die Religionsfreiheit nach dem Krieg führte zur "Rush-hour der Götter" (McFarland), wobei die aufblühenden Neureligionen in verschiedenen Formen wiederum mit der Gesellschaft in Konflikt gerieten. Das zeigt sich insbesondere an ihren politischen Ambitionen: Soka Gakkai etwa gründete ihre eigene Partei Komeito, die unter den Gläubigen ein riesiges Wählerpotential zu aktivieren vermag. Dadurch entsteht ein Konflikt mit dem Prinzip der Trennung von Religion und Staat. In bezug auf die Regionalgesellschaft, in der sich eine Neureligion zu etablieren versucht, entstehen Konflikte mit den etablierten Autoritäten (Behörden, traditionelle Religionen etc.).

Kap. 6 behandelt die "vergleichenden Forschungen", wodurch neue Perspektiven für die Neureligionen selbst gewonnen werden sollen. Darunter werden diejenigen Untersuchungen gezählt, die von ausländischen Forschern über japanische Neureligionen und von Japanern über ausländische Neureligionen erstellt wurden, sowie Studien zu im Ausland verbreiteten japanischen Neureligionen und kulturvergleichende Studien von Neureligionen unterschiedlicher Länder.

Teil 3 behandelt die "Untersuchungsmethoden und die grundlegenden Materialien".

In Kap. 1 findet der Anfänger wie der Spezialist wichtige Anregungen in der systematischen Aufstellung der anwendbaren Methoden. Im Unterschied zur Beschäftigung mit geschichtlichen Gegenständen sieht sich die Untersuchung lebendiger und eigendynamischer Bewegungen vor neuartige Schwierigkeiten gestellt, die eine eigene Methodik erforderlich machen. Zu Beginn der Aufstellung "grundlegender Materialien" hat der Hg. Kürzungen von Gesetzestexten und Tafeln mit den Abstammungslinien der Neureligionen vorgenommen. Da gerade solche Tafeln eine Übersichtlichkeit in die verwirrende Vielzahl der Neureligionen bringen können, ist es bedauerlich, daß sie dem deutschsprachigen Leser vorenthalten wurden.

Im Anschluß daran werden 52 Neureligionen jeweils kurz vorgestellt, wobei der Hg. eine Erweiterung sowie Aktualisierung vorgenommen hat. Dieser Teil dient ebenso wie die anschließende "Chronik der japanischen Neureligionen" weniger zur Lektüre als zum Nachschlagen.

Über die Übersetzung einzelner Begriffe kann man sich natürlich immer streiten. Ich selbst würde kisei-shukyo nicht mit "Altreligion" wiedergeben (9), sondern durchgehend mit "etablierter Religion", und kyogaku nicht mit "Theologie" (63), sondern mit (religiöser, sektenspezifischer) "Lehre". Für Theologen wäre es noch interessant gewesen zu erfahren, daß sich unter den japanischen Neureligionen auch zahlreiche einheimische christliche Kirchen ­ wie Iesu-no-mitama-kyo-kai-kyo-dan ("Kirche des Geistes Jesu") (246) ­ befinden. Immerhin weisen die Autoren auf die selbständigen Kirchen Afrikas als mögliche Vergleichsgruppe für japanische Neureligionen hin (209). Der Hg. gibt die Zahl der heute staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften mit ca. 380 an: Diese Zahl stammt aus den 50er Jahren, gegenwärtig gibt es mehr als 184.000 (Shuyo nenkan [Jahrbuch Religion]).

Insgesamt muß man L. für dieses Werk außerordentlich dankbar sein. Die Leistung der Übersetzung und Herausgabe vermag letztlich nur derjenige zu ermessen, der selbst wissenschaftliche Texte aus dem Japanischen übersetzt hat. Ein wichtiger Problempunkt, auf den die Autoren zwar eingehen, bei dessen Erörterung aber auf halbem Wege stehen bleiben, besteht in der "wertenden Beurteilung der Neureligionen" (11-17).

Fälle wie Soka Gakkai und Om Shinrikyo zeigen, daß sich der Religionswissenschaftler einer Wertung grundsätzlich nicht entziehen kann und darf. Er darf die Beurteilung von Neureligionen nicht allein Staat, Gesellschaft und Medien überlassen. Moralische Maßstäbe, die normalerweise beim abusus von Religion angewendet werden, sind unzureichend. Darum ist es notwendig, religionswissenschaftlich gewonnene Kriterien für solch eine Urteilsbildung aufzustellen.

Das Handbuch zeigt den hohen Stand der japanischen Forschung, der auch, soweit ich sehen kann, die relevante internationale Forschung voll mit einbezogen hat. Solch ein Werk ist für Spezialisten interessanter als für Laien; penible Auflistungen von Daten wechseln sich mit spannender Wiedergabe von Forschungsergebnissen ab. Für das breite deutschsprachige Publikum dürfte ein ausführlicher informierendes Lexikon noch notwendiger sein.