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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

389–391

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Listl, Joseph

Titel/Untertitel:

Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, hrsg. von J. Isensee und W. Rüfner in Verb. mit W. Rees. 2 Halbbde.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1996. XXXVI, XXVI, 1173 S. gr.8°. Lw. DM 128,­. ISBN 3-428-08455-1.

Rezensent:

Markus Heintzen

Im wissenschaftlichen Werk Joseph Listls sind deutsches Staatskirchenrecht und kanonisches Recht in einzigartiger Weise miteinander verbunden. L. ist Jurist und Theologe, Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg und Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands in Bonn, Mitglied der Staatsrechtslehrervereinigung sowie Mitglied des Jesuitenordens. Die von Josef Isensee und Wolfgang Rüfner in Verbindung mit Wilhelm Rees hg. Auswahl von 46 Aufsätzen, Lexikonartikeln, Rezensionen, Urteilsanmerkungen und Vorträgen L.s aus den Jahren 1967 bis 1995 erhebt nicht nur den Anspruch, diese Vielfalt widerzuspiegeln; sie tut es auch. Maßstab dafür ist eine 138 Titel umfassende wissenschaftliche Gesamtbibliographie, die am Schluß des zweiten Teilbandes vor dem Personen- und dem Sachregister zu der Edition zu finden ist.

Die Hgg. haben ihre Auswahl von fachwissenschaftlichen Arbeiten und einigen gutachtlichen Stellungnahmen Listls zu aktuellen Streitfragen in zehn Komplexen übersichtlich gebündelt und damit zugleich das ‘uvre L.s thematisch strukturiert. Die zehn Themenkomplexe heißen: Freiheit der Religion und des Gewissens (mit 9 Titeln und 230 Seiten der umfangreichste Themenkomplex), historische Fundamente des deutschen Staatskirchenrechts, Grundstrukturen des Staatskirchenrechts, Konkordate und Kirchenverträge, Kirchenamt und Kirchenloyalität, kirchliches Wirken, Kirchenorganisation, Staat und Kirche im katholischen Verständnis, Grundlagen des katholischen Kirchenrechts (mit 2 Titeln und nur 8 Seiten die kleinste Gruppe), schließlich geschichtliche Exempel, die lockere Zusammenfassung von zwei Schriften, die eine über Bischof Optatus von Mileve, dessen Stellungnahme gegen den Donatismus und, damit verknüpft, zu der Frage, ob der römische Kaiser berufen sei, innerkirchliche Streitfragen zu entscheiden, und die andere über den Zentrumspolitiker Prälat Ludwig Kaas.

Die wenigen Arbeiten L.s, die allein das allgemeine Staats- und Verwaltungsrecht betreffen, so der Habilitationsvortrag über die Entscheidungsprärogative des Parlaments für die Errichtung von Kernkraftwerken, bleiben unberücksichtigt. Den Vorspann bildet eine kurze Einleitung beider Hgg., in welcher sie Wirkung und wissenschaftliches Profil Joseph Listls würdigen.

Die Edition dient einem dreifachen Zweck. Sie ist zunächst eine Ehrung L.s aus Anlaß seines 65. Geburtstags am 21. Oktober 1994. Sie erschließt sodann Schriften, die bisher verstreut und zum Teil entlegen waren oder sogar, wie ein Gutachten zur polizeilichen Erlaubnispflichtigkeit von Fronleichnamsprozessionen und ein Beitrag über das Amt in der Kirche, noch gar nicht veröffentlicht wurden; davon profitiert sowohl das Staatskirchenrecht hinsichtlich der kanonistischen als auch die Kirchenrechtslehre hinsichtlich der Publikationen zum Religionsrecht des Grundgesetzes. Die Edition läßt schließlich drittens die Grundfragen und Probleme deutlich werden, mit denen L. sich immer wieder auseinandergesetzt hat, nicht nur in der Dissertation über das Grundrecht der Religionsfreiheit und der Habilitationsschrift über Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, und die seinem Werk das ihm eigene Gepräge geben.

Der archimedische Punkt im Gesamtwerk Joseph Listl sei die Religionsfreiheit nach staatlichem Recht ­ so die Hgg. zur Begründung von Auswahl und Anordnung der Texte (XXXI). Die Religionsfreiheit schütze als Doppelgrundrecht nicht nur die religiöse Freiheit des Individuums, sondern auch das korporative Daseins- und Betätigungsrecht der religiösen Vereinigungen, darunter nicht zuletzt der Kirchen. Eine der wissenschaftlichen Pionierleistungen L.s habe darin bestanden zu erkennen, daß die korporative Religionsfreiheit aus Art. 4 des Grundgesetzes mit den Garantien kirchlicher Selbstbestimmung aus Art. 137 Absätze 1 bis 3 der Weimarer Reichsverfassung, diese in Verbindung mit der Übernahmevorschrift des Art. 140 des Grundgesetzes, konvergierten. Die von Art. 140 des Grundgesetzes übernommenen Weimarer Kirchenartikel und damit das überkommene deutsche Staatskirchenrecht ständen folglich in keinem Gegensatz zur Religionsfreiheit. Im Gegenteil: Das Staatskirchenrecht lasse sich ­ dies die Konsequenz der Konvergenzthese ­ aus der Religionsfreiheit neu und zeitgemäß legitimieren.

Diese Sicht ist alsbald unter den Verfassungsjuristen herrschend geworden und in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingegangen. Seitdem die katholische Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil, insbesondere in der Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae", ihre Haltung zu den Menschenrechten grundlegend geändert hat, kann diese Sicht auch der kirchlichen Lehre über das Verhältnis von Kirche und Staat zugrunde gelegt werden. L. tut dies (siehe z. B. 998 f.), indem er die Kirche dem Staat als societas juridice perfecta gegenüberstellt und ihre Andersartigkeit und Eigenständigkeit dem Staat gegenüber religionsgrundrechtlich absichert. Die Religionsfreiheit vermittelt so zwischen der staatlichen Sicht der Kirche und der kirchlichen Selbstpositionierung. Aus der Sicht des Staates sind die Kirchen Grundrechtssubjekte und, im Sinne der staatstheoretischen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, Teile der Gesellschaft.

Nach ihrem von der Religionsfreiheit geschützten Selbstverständnis ist die katholische Kirche für L. Heilsgemeinschaft und rechtlich verfaßte Institution, societas juridice perfecta, zugleich. Den Begriff der societas perfecta versteht L. nicht in einem naturrechtlichen, sondern in einem theologischen Sinne. Die Kirche soll nach dem Willen ihres Stifters alle Rechte und Befugnisse besitzen, deren sie zur Verwirklichung ihrer göttlichen Sendung und ihres Heilsauftrages bedürfe. Listl bekennt sich damit zur Lehre vom ius publicum ecclesiasticum, die er gegen Einwände verteidigt und für neue Fragestellungen, wie die Grundrechte der Gläubigen und die Ökumene, fruchtbar machen will.

Im Sachregister des Werkes findet man unter "Ökumene" nur drei Nachweise. Daraus zu folgern, das Verhältnis zwischen den Kirchen komme zu kurz, wäre indes verfehlt. Immer wieder wird die katholische mit der protestantischen Position verglichen, in der Absicht, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede deutlich zu machen, so beim Amtsbegriff (593) oder beim Kirchenbegriff (1024). Verglichen werden insbesondere die Auffassungen beider Konfessionen über ihr Verhältnis zum Staat, über die Kirche als Institution und die Bedeutung und den Geltungsgrund ihres Rechts.

Das weitgespannte thematische Spektrum der beiden Sammelbände kann hier bestenfalls kursorisch vorgestellt werden. Es reicht von einem Aufsatz über ein so klassisches Thema wie "Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit" und eine Abhandlung Listls über seinen ersten akademischen Lehrer, Ulrich Scheuner, bis hin zu den aktuellen Fragen des Staatskirchenrechts in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Praktischen Rechtsfragen wird breiter Raum gewidmet, so in Rechtssprechungsübersichten zum Recht der Arbeitsverhältnisse kirchlicher Dienstnehmer oder zum kirchlichen Besteuerungsrecht. Rechtswissenschaftlich von besonderem Interesse ist angesichts manch gegenläufiger theologischer Zeitgeistlichkeit, wie L. die Notwendigkeit von Institutionen, ihren Eigenwert und ihre praktischen Funktionserfordernisse herausstellt und als Normativist auf die Macht des Wortes setzt, die sich im Recht objektiv und verallgemeinerbar verkörpert.