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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

375–377

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Winter, Hans

Titel/Untertitel:

Die theologische und philosophische Auseinandersetzung im Protestantismus mit J. G. Fichtes Schrift "Versuch einer Kritik aller Offenbarung" von 1792. Kritische Rezeption und zeitgenössische Kontroverse als Vorphase zum sogenannten Atheismusstreit von 1798/99.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 307 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe 23: Theologie, 557. DM 89,­. ISBN 3-631-49850-0.

Rezensent:

Gunther Wenz

Im Jahre 1793 erschien die Erstausgabe von Kants Schrift über "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Nachdem seine theoretische Philosophie, deren Propädeutik namentlich in der "Kritik der reinen Vernunft" (1781; 21787) formuliert ist, Gottes Dasein für aus Vernunftgründen zwar unwiderlegbar, aber auch unerweisbar und damit den Gottesgedanken zu einem Grenzbegriff erklärt hatte, blieb es des weiteren der praktischen Philosophie vorbehalten, als Basis der Lehre von der Religion zu fungieren. Nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich setzt Kants Religionsschrift demnach die "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (1785) und die "Kritik der praktischen Vernunft" (1793) voraus: Ist die Religion doch nach Kant im wesentlichen dazu bestimmt, dem Vollzug der Moral und deren Streben nach dem höchsten Gut als dem obersten Zweckbegriff vernünftiger Ethik durch Pflege der Vorstellung einer letztendlichen Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit zu dienen. Auch wenn Kant deren Verhältnis zueinander nicht einheitlich bestimmte und beide Größen gerade in der Religionsschrift nur mehr verhältnismäßig äußerlich aufeinander bezog, blieb es doch der Zusammenhang von Moralität und Glückseligkeit, um dessen Gewährleistung willen es nach seinem Urteil sowohl des Postulates Gottes als auch der sonstigen religiösen Hypothesen bedurfte, welche aus dem Gottespostulat folgen sollten.

Bereits Monate vor Publikation der Schrift über "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" war ein anderes Werk erschienen, das seinerseits die religionsphilosophischen Konsequenzen aus Kants Ethik zu ziehen sich anschickte. Es geschah dies mit derart überzeugendem Erfolg, daß der Text vom interessierten Publikum geraume Zeit für ein eigenes Werk des Königsberger Weltweisen gehalten wurde. Die Rede ist von Johann Gottlieb Fichtes "Versuch einer Kritik aller Offenbarung" von 1792. Fichte hat später sein auf Empfehlung Kants gedrucktes und anfänglich anonym erschienenes Buch als schlecht und mißlungen abqualifiziert. Gleichwohl verfehlte es mit der entwickelten Grundthese, daß geoffenbarte Religion nur auf moralischen Gründen beruhen und aus der praktischen Vernunft des Menschen hervorgehen könne (wobei sie ihren sittlichen Zweck im wesentlichen durch Integration des Glückseligkeitsstrebens in den Kontext der Moral realisiere), zu seiner Zeit seine Wirkung nicht. Im Gegenteil: Die bemerkenswerte theologische und philosophische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Fichtes Offenbarungsschrift im nahen zeitlichen Umfeld ihres Erscheinens zeigt eindeutig, wie groß der Eindruck war, welchen sie bei den Zeitgenossen hinterließ.

Dies in einzelnen aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst der hier anzuzeigenden Bamberger Dissertation. Nach einleitenden Bemerkungen zur Zielsetzung und Darstellungsmethode seiner Arbeit sowie zum gegenwärtigen Stand der Forschung analysiert der Vf. zunächst eingehend den Text und die philosophischen Voraussetzungen von Fichtes Offenbarungsschrift, wobei dem Offenbarungsbegriff und dem Religionsverständnis naturgemäß besondere Aufmerksamkeit zugewendet wird. Mit Recht wird betont, daß "für Fichte..., ebenso wie für Kant, die praktische Vernunftreligion den Kern der Offenbarungsreligion [bildet]" (43). Lassen sich bei Kant noch Tendenzen religiöser Transzendierung der Autonomie der reinen praktischen Vernunft namhaft machen, so hat nach dem Urteil von W. die Offenbarung beim Kantianer Fichte nur noch "die Funktion einer Konkretion der Ideen für den sinnlichen Menschen, wobei diese anthropomorphisierte Vorstellung nur subjektiv gültig ist, im Gegensatz zur Allgemeingültigkeit der apriorischen Vernunftreligion" (46). Fichtes Wende zum praktischen absoluten Ich deute sich hierin bereits an. In einem Abschnitt über das Verhältnis der Offenbarungsschrift zur Wissenschaftslehre wird dies eigens entfaltet (54-57).

Bevor im bei weitem umfangreichsten Teil der Arbeit sodann die Auseinandersetzung mit Fichtes Offenbarungskritik thematisiert wird, untersucht W. vorbereitend noch "einige bedeutende Werke von Theologen und Philosophen..., die zwar keine direkte Auseinandersetzung mit Fichte darstellen, aber deutlich unter dem Eindruck von Fichtes Schrift entstanden sind und eine indirekte Auseinandersetzung beinhalten" (77). Erörtert werden einschlägige Werke von Traugott Wilhelm Krug (77-84), Immanuel Johann Gottfried Berger (85-93), Johann Anton Wilhelm Gesner (94-98) sowie Johann Gebhard Ehrenreich Maass (99-106).

Was die eigentliche zeitgenössische Kontroverse um Fichtes Offenbarungsschrift betrifft, so nimmt die Darstellung ihren Ausgang bei den Anhängern Kants und Fichtes. Behandelt werden Johann Heinrich Tieftrunk (107-116) und Ludwig Heinrich Jakob (117-127). Es folgen die Vertreter der Neologie, nämlich Jakob Christoph Rudolf Eckermann (128-151), dessen Kritik an Fichtes Lehre vom höchsten Gut als exemplarisch für den neologischen Standpunkt gelten kann (vgl. 148 f.), Daniel Jenisch (152-161), Albrecht Heinrich Matthias Kochen (162-176), Samuel Gottlieb Lange (177-180), Friedrich Immanuel Niethammer (181-198), Georg Friedrich Seiler (199-217), Friedrich Köppen (218-233) und Johann Christian August Grohmann (234-246). Den Abschluß bildet der Supranaturalist Friedrich Gottlieb Süskind als Repräsentant der älteren Tübinger Schule und entschiedener Gegner Fichtes (247-257).

In systematischer Hinsicht verdient besonderes Interesse, was der Vf. im letzten Teil seiner Arbeit in der Absicht der Ertragssicherung zu erweisen sucht (258-289), daß sich nämlich in der zeitgenössischen Kontroverse um Fichtes Offenbarungsschrift bestimmte und z. T. sogar lagerübergreifende Strukturen der Argumentation ausgebildet haben: "Gegenüber Fichtes rein metaphysischem Gottesbegriff wird unter Aufnahme des ontologischen Beweises der theistische Gottesbegriff, d. h. Gott als der Welt gegenüberstehendes, unabhängiges und vollkommenes Wesen mit Verstand und Willen verteidigt, wobei seine Eigenschaften deutlich auf Welt und Mensch bezogen werden. Dabei werden philosophische Begriffe wie Substanz, Sein, Vollkommenheit und Kausalität verwendet. In der Kosmologie wird der wirkliche Begriff des Schöpfers und die natürliche Theologie verteidigt. Die Schöpfung wird hier teleologisch interpretiert und auf Gott als erste Ursache bezogen; damit bekommt die natürliche Ordnung eine selbständige Bedeutung neben der moralischen. Gegen die Konstruktion absoluter Subjektivität wird die Endlichkeit des Menschen, die bedingte Freiheit und seine begrenzte Vernunft betont. Als empirisch-geschichtliches Subjekt braucht er ein bestimmtes Religionsverständnis und nicht nur eine reine Vernunftreligion. Der theologische, kosmologische und anthropologische Aspekt werden in der Lehre vom höchsten Gut zusammengefaßt, das die natürliche und moralische Ordnung umfaßt und zu dessen Verwirklichung der Mensch als moralisches Wesen, und Gott mit seinem übernatürlichen Beistand zusammenwirken." (288)

In Anbetracht dieser Argumente beendet W. seine Dissertation mit der vermutungsweise geäußerten Annahme, daß der sog. Atheismusstreit der Sache nach eigentlich schon im Jahre 1792 anhebt und im Jahre 1798 mit den Auseinandersetzungen um den Aufsatz "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" lediglich einen neuen Höhepunkt erreichte, der 1799 bekanntlich zur Entlassung Fichtes aus seinem Jenenser Lehramt geführt hat. Wie immer man darüber im einzelnen urteilen mag, eine sachliche Problemkontinuität in den Kontroversen der 90er Jahre ist unbestreitbar und unschwer zu erkennen. Dabei ist die Schlüsselfrage diejenige, ob die Offenbarungskritik Fichtes tatsächlich die Reduktion des Gottesgedankens auf das sittliche Bewußtsein und die moralische Auflösung des spezifisch Religiösen zur zwangsläufigen Folge haben muß oder ob nicht das zur Natur des Menschen gehörige Glückseligkeitsstreben, in bezug auf welches 1792 der Offenbarungsbegriff entwickelt wurde, den Gedanken an eine wie auch immer geartete konstitutive Funktion der Religion für die Moral nicht nur nahelegt, sondern erfordert. Fichtes Sohn Johann Immanuel Herrmann, der nachmalige spekulative Theist und Herausgeber der Werke seines Vaters, hat in der Vorrede der Edition der Schriften Johann Gottlieb Fichtes zur Religionsphilosophie (Johann Gottlieb Fichte’s sämtliche Werke, Zweite Abteilung: B. Zur Religionsphilosophie. Dritter Band, Berlin 1845, V-XXXVII, hier: XXVII) die Annahme geäußert, das Hauptargument des moralischen Beweises für das Dasein Gottes, welches der "Versuch einer Kritik aller Offenbarung" noch im wesentlichen bekenne, sei Fichte im Verlauf der 90er Jahre nachgerade deshalb verloren gegangen, weil er den Unterschied von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität, zwischen Moralität und Glückseligkeit, oder anders gesagt: zwischen dem Menschen als Noumenon und Phänomenon in einen subjektiven Tugendidealismus, der zugunsten eines reinen moralischen Selbstbewußtseins notfalls alle Weltbezüge fahren zu lassen bereit ist, aufzuheben sich anschickte. Nicht atheistisch, sondern vielmehr akosmistisch sei deshalb Fichtes System der späten 90er Jahre ­ nicht zuletzt nach Maßgabe erklärter Selbsteinschätzung ­ recht eigentlich zu nennen, "indem es die vermeintliche Realität einer objectiven Sinnenwelt und den Wahn einer von dort aus den Geist beherrschenden Naturnothwendigkeit ganz vernichte, und in die moralische Freiheit des Ich und die sittliche Weltordnung der Iche die einzige Realität und die Offenbarung des Göttlichen setze" (a.a.O., XXI).

Dies ist eine bemerkenswerte Interpretationsthese, über die sich nach wie vor nachzudenken lohnt. W.s Dissertation hat einen trefflichen Anlaß hierfür geliefert.