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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

154–157

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Curtis, Adrian H. W. and Thomas Römer [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Book of Jeremiah and its Reception. Le livre de Jérémie et sa Réception.

Verlag:

Leuven: University Press/Peeters 1997. 331 S. gr. 8 = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 128. Kart. BEF 2400. ISBN 90-6186-791-6; 90-6831-815-2.

Rezensent:

Rüdiger Liwak

Die 13 Beiträge, von denen 11 aus einem 1995 in Lausanne veranstalteten Kolloquium von Exegeten aus Manchester und Lausanne resultieren, konzentrieren sich auf redaktionskritische Probleme des Jeremiabuches und seine Rezeption im Alten Testament sowie in frühjüdischer und frühchristlicher Literatur. Hermeneutischer Fixpunkt der Aufsätze ist das sich vom Propheten zum Prophetenbuch und seinen Wirkungen verlagernde Forschungsinteresse: "Rather than concentrating on the biography and ipsissima verba of the prophetic persona and the process whereby the individual canonical book came into being, the attempt is made to focus on a literary entity, its redaction and reception" (11). Dabei werden die späteren Theologisierungen und literarischen Prozesse von den Herausgebern axiomatisch und grundlegend in der sogenannten deuteronomi(sti)schen Schule verankert. Ob die Vorträge in der Reihenfolge ihrer Drucklegung gehalten wurden, geht aus dem in englischer und französischer Sprache verfaßten Vorwort (7) und der Einleitung (11-14) nicht hervor. Sie spiegeln jetzt jedenfalls weitgehend ein geschichtliches Gefälle von Redaktion und Rezeption wider, das von der Exilszeit bis in nachchristliche Zeit reicht.

Die ersten beiden Aufsätze fragen nach deuteronomistischer Redaktionstätigkeit. Terence Collins ("Deuteronomist Influence on the Prophetical Books", 15-26) nimmt eine am Ende des 8. Jh.s entstehende prophetisch-deuteronomische Bewegung an, in deren Gefolge eine erste Generation von Deuteronomisten das Deuteronomistische Geschichtswerk geschaffen und eine zweite Generation zwischen 550 und 450 nacheinander die prophetischen Bücher Jeremia (in Babylonien), Jesaja und das Dodekapropheton (in Juda) bearbeitet habe. Für Thomas Römer ("La conversion du prophète Jérémie à la théologie deutéronomiste. Quelques enquêtes sur le problème d’une rédaction deutéronomiste du livre de Jérémie", 27-50) dagegen hängt das Projekt der deuteronomistischen Redigierung der Bücher Dtn bis 2Kön und der Prophetie Jeremias zusammen, er unterscheidet aber zwei Stufen der Redaktion des Jeremiabuches: eine erste, die den ’historischen’ Jeremia durch die Bearbeitung der Kap. 7-35* interpretiert habe, und eine zweite, bei der in der Perserzeit die Kap. 2-6* und 37-43* integriert worden seien.

Vier weitere Arbeiten greifen in unterschiedlicher Art redaktionskritische Aspekte auf, eine davon auch im Blick auf die deuteronomistische Frage: Jean-Daniel Macchi ("Les doublets dans le livre de Jérémie", 119-150) verknüpft mit der Technik von Dubletten eine literarische Tradition, die er in drei entstehungsgeschichtliche Kategorien einteilt. Danach stammen die das Buch strukturierenden Doppelungen mit Unheilscharakter von verschiedenen deuteronomistischen Händen. Den Dubletten in dem Überschuß des gegenüber der Septuaginta längeren Masoretischen Textes wird ebenfalls eine strukturierende Funktion zugeschrieben. Einer weiteren, komplexen Gruppe von Dubletten in Fremdvölker- und Heilsworten wird besondere Beachtung geschenkt, weil hier subtile Formen von Schriftauslegung vorlägen. Das Verhältnis von Septuaginta und Masoretischem Text in grundsätzlicherem Sinne ist das Thema von Yohanan Goldman ("Juda et son roi au milieu des nations. La dernière rédaction du livre de Jérémie", 151-182). Er bekräftigt seine schon monographisch geäußerte Ansicht von dem kürzeren Septuaginta-Text als der älteren Textform und setzt aufgrund der thematischen Kohärenz und ideologischen Homogenität der masoretischen ’Langform’ eine zur Zeit der Rückkehr aus Babylon tätige Redaktion an, die das ihr vorgegebene Material erheblich umgestaltet, aber daraus noch keinen Deutero-Jeremia gemacht habe. Viel später datiert Pierluigi Piovanelli ("JrB 33, 14-26, ou la continuité des institutions à l’époque maccabéenne", 255-276) eine entsprechende Redaktion, die er nach einer kritischen Edition und Analyse des ’Plus’ von Jer 33,14-26 einem den Chassidim angehörenden Autor in der Mitte des 2. Jh.s v. Chr. zuschreibt, der die aaronidische bzw. levitische Priesterschaft und die makkabäische Politik habe legitimieren wollen. Auf eine weitere redaktionelle Aktivität zielt der umfangreiche Aufsatz von John Applegate ("’Peace, Peace, when there is no Peace’. Redactional Integration of Prophecy of Peace into the Judgement of Jeremiah", 51-90). Im ausführlichen Gespräch mit der bisherigen Forschung wird mit der Analyse von Jer 32,1-34,7 als redaktioneller Einheit ein Wendepunkt in der prophetischen Verkündigung aufgezeigt, der in Jer 32 seinen Schlüsseltext habe, mit dem grundlegend die Perspektive des Heils in das Leben und Buch des Propheten integriert worden sei.

Die übrigen Arbeiten des Aufsatzbandes beziehen sich auf Fragen von Rezeption und Wirkung des Jeremiabuches.

Für den Bereich des Alten Testaments verfolgt John Applegate ("Jeremiah and the Seventy Years in the Hebrew Bible", 91-110) die breite Interpretationsskala, wenn außerhalb des Jeremiabuches der Prophet und die ’70 Jahre’ von Jer 25,11.12; 29,10 erwähnt werden, während Adrian H. W. Curtis ("Terror on every Side!", 111-118) im Jeremiabuch, in den Klageliedern (2,22) und im Psalter (31,14) die Wendung ma gor missaahib mit ihren Entsprechungen untersucht, die er als aus dem Kult stammendes Idiom vermutet. Die Frage der expliziten Zitierung und impliziten Anspielung beschäftigt vor allem George J. Brooke ("The Book of Jeremiah and its Reception in the Qumran Scrolls", 183-205), der die in Qumran gefundenen Fragmente des Jeremiabuches und einer apokryphen Jeremiaschrift vorstellt und Einflüsse des kanonischen Jeremiabuches auf Damaskusschrift, Hodajot und Tempelrolle diskutiert. Daß viele Anspielungen auf das Jeremiabuch und seinen Protagonisten in frühjüdisch-palästinischen und -babylonischen Schriften ein starkes Weiterwirken der Jeremiatradition unter Beweis stellen, zeigt die Arbeit von Roger Tomes ("The Reception of Jeremiah in rabbinic Literature and in the Targum", 233-253).

Im Blick auf die Rezeption im Neuen Testament fordert Andrianjatovo Rakotoharintsifa ("Jérémie en action à Corinthe. Citations et allusions jérémiennes dans 1 Corinthiens", 207-216), nicht nur auf Zitate, sondern auch auf ’Echos’/Themen und Anspielungen zu achten, die einen Einfluß des Jeremiabuches auf paulinische Vorstellungen von Theologie und Amt zu erkennen gäben. In einer breiten Auseinandersetzung verwirft David R. Law ("Matthew’s Enigmatic Reference to Jeremiah in Mt 16,14", 277-302) bisher vorgetragene Deutungen der Erwähnung Jeremias in Mt 16,14 und nennt selbst Jeremias Verheißung des Neuen Bundes, seine Erfüllung in Jesus Christus und seine Beerbung durch die Kirche als ausschlaggebende Gründe. Nicht immer ist die Erinnerung an Jeremia und sein Buch vom kanonischen Jeremiabuch ausgegangen. In den Paralipomena Jeremiae sei der Jeremiastoff zum Teil über die Apokalypse des Baruch vermittelt, zum Teil aber auch vom kanonischen Buch direkt inspiriert, wie die Erzählung von Abimelech (= Ebedmelech von Jer 38,7-12; 39,16) mit ihrer doppelten Hoffnung auf die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem und auf das Heil der Gerechten im himmlischen Jerusalem zeige. Das jedenfalls ist der Ertrag der Beobachtungen von Jean-Daniel Kaestli ("L’influence du livre de Jérémie dans les Paralipomènes de Jérémie", 217-231).

Der Aufsatzband, der durch ein Autoren- und Textstellenregister - eine Bibliographie weist nur einer der Beiträge von J. Applegate auf - sowie durch englisch- und französischsprachige Zusammenfassungen gut zu erschließen ist, stellt zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Jeremiaforschung dar, zumal in einigen Arbeiten ausführlich die bisherige Forschung zu Worte kommt.

Der weniger mit den Problemen des Jeremiabuches Vertraute wird allerdings wohl recht ratlos vor den postulierten Redaktionen stehen, die sich zum Teil nur schwer miteinander vermitteln lassen. Freilich ist eine Aufsatzsammlung kein Lehrbuch, aber gerade weil die verschiedenen Ansätze sich tendenziell verselbständigen, wäre eine einführende Lesehilfe nützlich, die auch das mehrdeutige und durchaus unterschiedlich interpretierte Phänomen von ’Redaktion’ und ’Rezeption’ mit dem seinerseits ambivalenten Beziehungsgeflecht von Zitat, Einfluß und Anspielung grundsätzlicher strukturieren und bewerten könnte. Im Kontrast dazu, daß in den Beiträgen zur deuteronomistischen Problematik nur das sog. Blockmodell bei den literarischen Fragen des Deuteronomistischen Geschichtswerks berücksichtigt wird, ist die im Aufsatzband dokumentierte Vielstimmigkeit des Deuteronomismus im Jeremiabuch eher verwirrend. Der Deuteronomismus als Redaktions- und Reflexionsbegriff wird immer rätselhafter. Schon deshalb eignet er sich ebensowenig als Grundlage für das Verständnis der prophetischen Bücher der exilisch-nachexilischen Zeit wie der vorliegenden Aufsätze (so im "opening paper" [15]). Daß die Rezeption des Jeremiabuches auf den Anfang unseres Jahrtausends begrenzt wird, ist angesichts seiner Wirkung bis in die neuzeitliche Kunst und Literatur hinein bedauerlich, aber im Blick auf den zur Verfügung stehenden Umfang und den bibelwissenschaftlichen Schwerpunkt verständlich. Die Beschränkung steht den Herausgebern ohnehin deutlich vor Augen: "These articles underline in different ways the hermeneutical dynamics of the Jeremiah tradition which began with the formation of the Book and which did not stop with the last of the texts considered in this volume but continues to this day" (12).