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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

365 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Nagel, Anette

Titel/Untertitel:

Studien zur Passionskantate von Carl Philipp Emanuel Bach.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York-Bern-Berlin-Wien-Paris: Lang 1995. 254 S. 8° = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVI, 146. Kart. DM 79,­. ISBN 3-631-49022-4.

Rezensent:

Michael Märker

Carl Philipp Emanuel Bach, der zweite Sohn des Leipziger Thomaskantors, ist ­ anders als sein Vater ­ bislang kaum zum Gegenstand theologisch orientierter wissenschaftlicher Fragestellungen gemacht worden. Dies hängt zweifellos damit zusammen, daß dieser Meister des empfindsamen Stils seine musikhistorische Bedeutung vor allem Instrumentalwerken und weltlichen Liedern zu verdanken hat. Dennoch komponierte Carl Philipp Emanuel Bach während seiner Amtszeit als Musikdirektor der fünf Hauptkirchen Hamburgs (1768-1788) nicht weniger als 21 oratorische Passionen ­ Passionsvertonungen also, die sich auf die Texte der vier Evangelisten stützen und diese mit gedichteten Einlagen erweitern. Leider ist die Musik dieser sechs Matthäus- sowie je fünf Markus-, Lukas- und Johannespassionen weitgehend verschollen. In mehreren Quellen erhalten ist hingegen die offenbar einzige Passionskantate Carl Philipp Emanuel Bachs über ausschließlich gedichtete Texte.

Anette Nagel legt mit ihrer Hamburger Dissertation eine Studie zu diesem Werk (von dem die als "Passions-Cantatte von Ph. E. Bach" überlieferte wohl unechte Kölner Markus-Passion hätte abgegrenzt werden müssen) vor, die im Zusammenhang mit Editionsvorbereitungen innerhalb der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Gesamtausgabe entstanden ist. Im Zentrum der Arbeit stehen die Beschreibung des umfangreich überlieferten Handschriftenmaterials sowie die Diskussion der Quellenfiliation. Ergänzt wird dieser ausführliche Kritische Bericht durch die Notenwiedergabe der Satzanfänge (einschließlich unterschiedlicher Fassungen) sowie ­ wiederum in der Art eines Kritischen Berichts ­ durch ein Verzeichnis der zwischen den einzelnen Quellen abweichenden Lesarten. In diesem quellenphilologischen zweiten Teil ("Die Edition der Passionskantate") liegt der Hauptwert der Arbeit. Die Autorin geht überaus akribisch und umsichtig mit dem Material um, so daß man für künftige Forschungen auf diesen verläßlichen Teil zurückgreifen kann.

Gerade in einer Monographie über ein einzelnes Musikwerk allerdings müßte an exponierter Stelle gefragt werden, worauf sich das wissenschaftliche Interesse an dem gewählten Gegenstand gründet. Diese Frage wird nicht einmal gestellt, geschweige denn zu beantworten versucht. Nicht die vertonten Texte eines Christoph Daniel Ebeling, einer Anna Luise Karsch oder eines Johann Joachim Eschenburg vermögen jene Passionskantate vor der Vergessenheit zu bewahren; auch der Umstand, daß das Werk eine Hommage an Prinzessin Anna Amalia gewesen sein könnte (wie die Autorin glaubhaft darlegt), seine offenkundige Singularität innerhalb des ‘uvres des Komponisten oder die in der Arbeit schlüssig herausgearbeitete Eigenständigkeit des Werkes gegenüber der Matthäuspassion von 1769 dürften allein kaum dafür ausreichen. ­ Nein, letztlich sind es die Musik und deren ästhetische Relevanz, die die Erschließung der Quellen oder die Erhellung der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte eines solchen Werkes rechtfertigen. Die Autorin begnügt sich jedoch mit wenigen kursorischen Bemerkungen zu diesem zentralen Problem auf lediglich drei von insgesamt rund 250 Seiten der Arbeit. Dabei lassen die glanzlosen Beschreibungen einzelner musikalischer Sachverhalte analytische Schärfe und Aussagekraft vermissen. Zudem tauchen überflüssige Allerweltsformulierungen auf, so z.B., daß im Accompagnato Nr. XXV die "Instrumente im wesentlichen zur Stimmungsschilderung" dienen (51) oder das Duett Nr. XVI "höchste Anforderungen an das Können der beiden Sängerinnen" stelle (52). Zwar schätzt die Autorin die musikalische Qualität des Werkes als "bemerkenswert" ein (56), aber sie verschweigt weitgehend, worin sich diese äußert.

Die wichtige Erkenntnis, daß die Passionskantate dank ihrer zwanzigjährigen, fast ununterbrochenen Aufführungsgeschichte in Hamburg unter den Werken des Komponisten eine Ausnahmestellung einnimmt (58), fordert eine Erörterung der möglichen Gründe geradezu heraus. Dies unterbleibt jedoch ebenso wie eine poetologische oder gar theologische Würdigung der Texte. Mit seinem weitgehend positivistischen Wissenschaftsverständnis hinterläßt das Buch einen ambivalenten Eindruck: Als erweiterter Kritischer Bericht zum Gesamtausgaben-Band vermag es alle Erwartungen zuverlässig zu erfüllen; als Monographie über Bachs Passionskantate ist es ein Torso. Nicht "Studien", sondern "Quellenstudien" hätte der Titel ankündigen dürfen.