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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

356–359

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Overbeck, Franz

Titel/Untertitel:

Werke und Nachlaß. Bd. 5: Kirchenlexicon. Texte. Ausgewählte Artikel J–Z. In Zusammenarb. mit M. Stauffacher-Schaub hrsg. von B. von Reibnitz. XX, 762 S. Bd. 6/1: Kirchenlexicon. Materialien. Christentum und Kultur. Krit. Neuausg. hrsg. von B. von Reibnitz. X, 345 S.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 1995/96. Lw. DM 148,­ u. Lw. DM 128,­. ISBN 3-476-00966-1 u. 3-476-00967-X.

Rezensent:

Hans-Jürgen Gabriel

Mit der Anzeige des zweiten Teils der Auswahl aus Overbecks "Kirchenlexicon" findet die bereits vorgenommene Rezension des ersten (ThLZ 121, 1996, 76 ff.) ihre Fortsetzung. Insofern ist hier nur die dort begonnene inhaltliche Erschließung weiterzuführen. Die nunmehr publizierten Artikel bieten gegenüber dem bisher Bekannten keine ausgesprochenen Überraschungen, vermögen aber die Kenntnis von O.s Denken zu erweitern und zu präzisieren. So wird man es begrüßen, seine Überlegungen über Urgeschichte (sowie Urchristentum und Urliteratur), die bereits seit ihrem Bekanntwerden durch Bernoullis Veröffentlichung (Christentum und Kultur, 1919) Wirksamkeit erlangen, im Original lesen zu können (610-630). Gleiches gilt für das Stichwort "Paulus" (211-234), das durch O.s kritische Sicht des reformatorischen Paulusverständnisses ergänzt wird:

"Nur Gläubige, nicht auch heilige Glieder der Christengemeinde kennt Paulus nicht, niemand verbrieft er sein Heil rein auf den Glauben hin, das Christentum soll, und wenn auch nur für einen Augenblick, Gott in der Welt eine Gemeinde von Heiligen herstellen. Daran denkt die Reformation nicht mehr... Paulus ist viel katholischer als die Reformatoren ahnten, und sie haben ihn nur mit derselben Gewalt zu sich herübergezogen, mit der die alte Kirche sich des Alten Testaments bemächtigt hat."

Die Reformatoren hätten Paulus aus dem historischen Zusammenhang, insbesondere aus dem mit dem Judentum herausgelöst, um auf diese Weise eine von ihm gewonnene Lehre dogmatisieren zu können (225 f.). Zum Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus äußert sich O. anläßlich der 1904 erschienenen Arbeiten von H. Denifle über Luther und Luthertum. Er bescheinigt dem "rabiate(n) Dominicaner", "mit seinen Anklagen gegen den Protestantismus in einem nicht leicht zu überschätzenden Maße recht" zu haben. Jedoch: "Mag es auch tausendmal wahr sein, daß die protestantische Kirche unter uns nur noch unter Aufsicht des Staats lebt und mithin tot ist", so sollte darüber nicht vergessen werden, daß "zur Zeit von der katholischen Kirche ganz dasselbe gilt" und sie, wie sich an der Rolle der Zentrumspartei ablesen lasse, ebenso wie der Protestantismus "ein Spielball unserer Staatslenker ist". "Nichts fälscht das Christentum gründlicher als seine Hereinziehung in seiner unmittelbar religiösen Form in staatlichen Aufgaben und Zwecke." Bei den konfessionellen Streitigkeiten gehe es ohnehin nicht um das genuine Christentum, sondern um das diesem entfremdete "moderne Christentum", das zwar bei den Protestanten "unmittelbarer und häufiger" zu Tage trete, um dessen Berechtigung aber auch bei den Katholiken gerungen werde (258 f., 87).

Die Kritik an diesem "modernen Christentum" und der ihm zugehörigen Theologie nimmt denn auch in dem vorliegenden Band viel Raum ein. O.s Vorwürfe gegen letztere kulminieren in den Aussagen, sie sei "Pseudowissenschaft" und habe das Christentum verraten. (162, 489, 562 f., 590). Ersteres zeige sich sowohl in der Behandlung der Kirchengeschichte als auch im Umgang mit der Religionsgeschichte (529, 536 f., 541, 557, 559 ff., 580-585). O. bestreitet der Theologie die Fähigkeit, die Wahrheit des Glaubens in wissenschaftlicher Form darzulegen; vielmehr arbeite sie am Ruin des Christentums (472, 481, 491). Für O. ist "echtes Christentum... nie etwas anderes als Empfindung der Nähe des erwarteten ewigen Lebens und Vergessen der Tatsache, daß sich zwischen diesem Leben und dem der Zeitlichkeit die Dauer der Weltgeschichte schiebt" (564). Im Umgang der Theologie mit dem Christentum des NT walte weitgehend subjektivistische Willkür. Den Dienst, den hierfür früher die allegorische Schriftauslegung geleistet habe, erbringe neuerdings die Quellenanalyse. Sie konstruiere der Dogmatik für ihre Zielstellungen im Übergehen des traditionellen Kanons einen "präexistenten Kanon" (265, 593-598). "Die große Zeitaufgabe, die sie (die moderne Theologie) sich gestellt und dargeboten sah: das deutsche Reich brauchte eine Kirche." Diese ihm zu liefern, habe die Theologie ebenso übernommen, wie sie es im 17. Jh. in Frankreich getan habe (508 f.):

"Man kann die seit 1870 in Deutschland aufgekommene moderne Theologie als die Theologie des Deutschen Reiches betrachten, die Theologie, die sich dem Deutschen Reich zu Diensten gestellt hat für die Lieferung einer ihm passenden Kirche." (519 f., vgl. 528) "In der Ära der modernen Theologie ist die alte Allianz zwischen Theologie und Politik vielleicht zur höchsten Stufe ihrer Intimität gelangt" (551).

Als Exponenten hierfür nennt O. Reinhold Seeberg. (553 f.) O. trägt seine Kritik freilich nicht im Interesse der Erneuerung des genuinen Christentums vor, sondern auf der Basis einer generellen Ablehnung von Religion (286). Für ihn ist "alles, was gegenwärtig, d. h. im Zeitalter des modernen Christentums und der modernen Theologie in Dingen der Religion auf deutschem Boden geschieht, nur ein Anzeichen, daß es unter uns Menschen mit der Religion überhaupt zu Ende geht" (282). Schon die Gegenwart lasse erkennen, "daß es, wenn auch nicht zur Existenz einer Menschheit, so doch großer, volksartiger menschlicher Gesellschaften kommen wird, die ohne Religion leben" (285, 317). "Geschichtliche Betrachtung der Religion kann ihre Geltung nur untergraben. Denn jede Religion gehört ihrer Entstehung nach unter Menschen einer prähistorischen Welt an und kann in der historischen nur ihr Ende finden." Insofern sei die Kirchengeschichte geeignet, "alle Theologie als Apologetik" ad absurdum zu führen (299). Da moderne Theologie der Religion nicht mehr zum Weiterbestehen helfen könne, sei der Ausweg "ein vernünftiger Bruch" (318). "Die Kirche hat auf Erden ausregiert und mit ihr überhaupt die Religion. Nur wenn dies anerkannt ist, hat überhaupt Wahrhaftigkeit Aussicht darauf, in die Beziehungen der Menschen untereinander wieder hineinzukommen" (343).Besondere Sympathie bekundet O. gegenüber der Religionskritik von Proudhon ­ "wegen ihres humanistischen Charakters" (261).

Alle Vorwürfe gegen die Religion ließen sich in dem der Inhumanität zusammenfassen. Auch die Theologie sei "an sich humanitätswidrig und darum auch für die Humanität unerträglich" (318, 326). "Was wir Menschen mit der Moral erstreben, kann die Religion nicht sichern, unter Umständen nur gefährden" (319). Auch der Staat müsse auf die Religion als Mittel zur Begründung seiner Gewalt und zur Sicherung seines Bestandes verzichten. "Das Ruhekissen der Religion ist auch sein natürlichstes Sterbekissen" (321). Von diesen Voraussetzungen her versteht es sich, daß O. der allgemeinen Religionsgeschichte keine besondere Bedeutung beimessen kann und der Versuch, das Christentum innerhalb ihrer als den Gipfel der Entwicklung herauszustellen, für ihn ein aussichtsloses apologetisches Unternehmen ist. "Eine Geschichte, die als solche über den Vergleich des Christentums mit allen Religionen entschiede, gibt es gar nicht" (331 f., vgl. 338f.). Den Streit innerhalb der "modernen Theologie", "ob die ’religionsgeschichtliche Methode’ für die Kirchengeschichte die rechte sei", betrachtet O. als Ausdruck von Konfusion (91).

Ein wichtiges Motiv für O.s Kritik der "modernen Theologie ist in seiner Sicht die Tatsache, daß das Christentum, das "einst mit dem extremsten Hypernationalismus angefangen hat", "zu einem besonders kraftvollen Mittel zur Züchtung des rohesten Nationalismus werden konnte" (189). Die Dringlichkeit einer Überwindung des Nationalismus (und nicht nur des deutschen) trägt O. in folgenden Sätzen vor:

"Wie aber das Individuum unter dem Banne des Nationalismus nur noch verkümmern kann, so steht es auch mit der Menschheit als Ganzes. Auch sie erträgt die nationalen Schlagbäume nicht mehr, und auch die Gesamtheit der Germanen kann nicht mehr gegen die Menschheit Recht behalten, könnte es wenigstens nur auf ihre Kosten... Er [der Nationalismus] kann uns nicht mehr heben, ohne uns zugleich empfinden zu lassen, daß wir mit ihm unseren ganzen Kulturerwerb seinem Untergang entgegenführen" (187). In ähnlicher Schärfe werden von O. Sozialismus und Anarchismus abgelehnt. "Der Sozialismus will nur von Gleichheit der Menschen, der Anarchismus nur von Freiheit wissen. Jenes ist im Fundament und in seinen Voraussetzungen absurd, dieses wenigstens in seinen Konsequenzen" (451).

Im Vergleich zu O.s Kritik der "modernen Theologie" überrascht seine differenzierte Beurteilung von A. Ritschl. Zwar erscheint ihm dessen Theologie "als die dem modernen deutschen Reich auf den Leib geschnittene", doch betont er zugleich, daß ihre Konfessionalität diesem "sehr unbequem" sei (401). Einerseits weiß Overbeck Ritschl als Kirchenhistoriker zu würdigen, wenngleich bei ihm die Geschichte "lediglich eine Waffe des Dogmatikers" sei, andererseits wirft er ihm weitgehendes Ignorieren der Kirchengeschichte vor (377 f., 380).

Als Apologet des Christentums muß Ritschl in O.s Sicht freilich weit hinter Pascal und auch hinter Schleiermacher zurückstehen (390, 396 f.), wie denn überhaupt Pascal in mehrfacher Weise gewürdigt wird (198-210). Als seine "besten, langjährigsten und intimsten" Freunde nennt O. Heinrich v. Treitschke, Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde (501). Sie werden im vorliegenden Band zwar mehrfach erwähnt, jedoch sind O.s spezielle Aufzeichnungen über sie einer späteren Publikation vorbehalten. Man wird hiervon vor allem Aufschluß erwarten über Nietzsches Einfluß auf Overbeck, der sich bereits in den hier rezensierten Aufzeichnungen spürbar abzeichnet.

Mit der in Bd. 6/1 vorgelegten kritischen Neuausgabe der von Bernoulli 1919 publizierten Auswahl aus Overbecks Nachlaß wird angestrebt, dem Leser das hierbei angewandte Verfahren einer Kompilation, deren Ergebnis eine Stilisierung und damit letztlich eine Verfälschung war, deutlich werden zu lassen. Waren in den vorausgehenden Bänden 4 und 5 zu O.s "Kirchenlexicon" mit wenigen Ausnahmen alle Stichwortartikel, die Bernoulli aufgenommen oder auch nur exzerpiert hatte, vollständig wiedergegeben worden, so bietet dieser Band fast durchgehend den Nachweis über die Herkunft und damit auch über den ursprünglichen Sinn- und Sachzusammenhang der miteinander verbundenen Zitate. Bernoullis Textzusammenstellung erscheint somit dem Leser zerlegt in kleinere und größere Einheiten, über deren Herkunft und ursprünglichen Kontext er sich kundig machen kann.

Über den Charakter von Bernoullis Kompilation hat sich die Hgn. bereits in der Einleitung zu O.s "Kirchenlexicon" (Bd. 4, XVI-XVIII) in deutlichen Worten kritisch geäußert. Zum Vorwurf der Dekontextualisierung kommt vor allem der einer inhaltlichen Gliederung, "für deren Konzeption keinerlei Vorgabe im Nachlaß vorhanden war". Überboten wird dieser Vorwurf noch durch die Feststellung, daß Bernoulli Overbeck eine philosophische Bedeutung beizumessen suchte und ihm damit ein Format zuerkannte, auf das dieser "kaum Anspruch erhoben" hätte.

Die Hgn. gibt als Zweck der kritischen Neuausgabe an, Bernoullis Kompilation "als solche kenntlich" und "als rezeptionsgeschichtliches Dokument benutzbar" zu machen, während "die Bearbeitungen, die Bernoulli stilistisch und inhaltlich an seinen Vorlagen vorgenommen hat,... nicht im einzelnen nachgewiesen" werden (VII f.). Damit ergibt sich ein Hinweis auf die noch zu leistende Arbeit. Wird man in Zukunft zur Kenntnisnahme des echten Overbeck auf "Christentum und Kultur" verzichten, so stellt sich demgegenüber die Frage nach Ansätzen in seinen Überlegungen, die ­ wachsam kritisch zur Zeit ihrer Aufzeichnung ­ in der Situation am Ende des 1. Weltkrieges aufgegriffen und weitergeführt werden konnten.

Zwar stößt der kritische Leser von "Christentum und Kultur" auf die Diskrepanz zwischen Bernoullis Vorrede und den von ihm zusammengetragenen Texten O.s, was vor allem deutlich wird an dem Versuch, O. als lebensphilosophisch orientierten Antiintellektualisten zu charakterisieren und ihm eine Geschichtsphilosophie zu unterstellen, die "metaphysikreif" sei (21 f., 29). Andererseits läßt sich freilich Bernoullis Gespür nicht leugnen, von O. signalisierte Krisensymptome ­ man denke nur an seine Kritik des nationalistischen Mißbrauchs des Christentums ­ aufzugreifen und selbständig zu aktualisieren.