Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1997

Spalte:

353–356

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Teil 1: Der Theologe und Historiker. Teil 2: Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker. Hrsg. und eingel. von K. Nowak. Mit einem bibliogr. Anhang von H.-C. Picker.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. 1683 S. gr.8°. Lw. DM 460,­. ISBN 3-11-013799-2.

Rezensent:

Pascale Gruson (Übersetzung Gérard Markhoff)

Auch Sozial- und Religionswissenschaftler sind nicht unbedingt gegen willkürliches Verhalten geschützt. Warum haben sie sich immer für die Arbeiten von Max Weber, Ernst Troeltsch und Werner Sombart interessiert und seit langem demjenigen nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit geschenkt, der ihnen zweifellos ihr Arbeitsfeld geöffnet hat, nämlich Adolf v. Harnack? Man kann sich nicht mit der allzu einfachen Antwort zufrieden geben, daß der Altmeister, Verkörperung des deutschen liberalen Protestantismus zur Zeit Wilhelms II. und der Weimarer Republik, so von seinen "Schülern" verrissen worden ist, daß es sich nicht mehr der Mühe lohnt, ihn zu studieren. Aber kann man denn ihre Arbeiten richtig einschätzen, ohne sie in Verbindung zu setzen mit dem Werk dieses Mannes, vor allem wenn dieses sichtlich bestimmend war? So ist es richtiggehend ein Ereignis, hier in zwei dicken Bänden viele der zahlreichen Artikel, Vorträge und Schriften zu finden, die Harnack im Verlaufe seines ereignisreichen und vielfältigen öffentlichen Lebens verfaßt hat. Diese Texte drohten in der Tat zu verschwinden, so groß war die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber.

Die hier vorliegende Ausgabe, eine Initiative von Kurt Nowak, erscheint zur gleichen Zeit in Deutschland und in den Vereinigten Staaten: Zeichen der Ehrerbietung für die vielen Arbeitsverbindungen und freundschaftlichen Beziehungen v.Harnacks mit Theologen und Universitätsprofessoren der "Neuen" Welt, unter denen Charles Eliot, einer der bedeutendsten Präsidenten der Universität von Harvard, nicht der geringste war. Ihr Aufbau ist einfach und damit zugleich ein gutes Mittel, die Reflexion zu beflügeln. Die ausgezeichnete Einleitung von Kurt Nowak zeigt die Höhepunkte des Lebens und Werkes v. Harnacks auf sowie die Kohärenz seiner Arbeiten, die alle inspiriert sind von seinem Mißtrauen gegen willkürliche Autoritäten in dieser Welt, vor allem gegen solche, die vorgeben, sich auf eine theologische oder dogmatische Grundlage zu stützen. Die Texte sind nach Themen geordnet, die deutlich die Fronten aufzeigen (theologische und dogmatische Probleme, Protestantismus, Katholizismus, Ökumenismus, Engagement in der Gesellschaft), und innerhalb der Themengruppen sind die Arbeiten chronologisch geordnet. Die Kapitel können Arbeiten sehr verschiedener Art enthalten (Grundsatzartikel, aktuelle Meinungen und Ansichten, Zeugnisse der Intensität seines akademischen Lebens, Predigten, Nachrufe, usw.). Diese objektive Darstellung erlaubt es dem Leser, seinen eigenen Weg zu finden und seine eigenen Verbindungen herzustellen (zum Beispiel die Schwerpunkte seiner Aktivität und seines Engagements zur Zeit des Ersten Weltkrieges).Eine ausführliche Bibliographie schließt das Werk ab: ein ausgezeichnetes Instrument zur weiteren Forschung für diejenigen, die sich für die Intensität des intellektuellen Lebens in Deutschland und insbesondere in Berlin zwischen 1871 und 1933 interessieren.

Man ist vom ersten Augenblick an beeindruckt von der Kraft der inneren Frömmigkeit v. Harnacks, die sichtlich die Grundlage seiner beachtenswerten Vitalität, seines Engagements in der Gesellschaft und seines Optimismus ist. Man ist auch beeindruckt von seinem Talent zu polemisieren und von der Vielfalt der Gebiete, auf denen er ihm freien Lauf läßt. Er kann ausgezeichnete Porträts seiner Zeitgenossen und Kollegen liefern; die von Theodor Mommsen und Friedrich Paulsen sind besonders beeindruckend. Dagegen ist es erlaubt, weniger begeistert zu sein von seinen Predigten im allgemeinen, die man über die Kapitel verstreut findet. Sie sind oft lang und rhetorisch, wenn nicht langweilig. Das ist wahrscheinlich Ausdruck des Zeitgeistes, könnte aber auch in Verbindung gesetzt werden mit seiner Weigerung, sich als "Theologe" zu betrachten.

Aber über diese allgemeinen Bemerkungen hinaus öffnet die Lektüre tiefgreifendere Debatten.

Harnack, das ist bekannt und Nowak ruft es in Erinnerung, ist nicht das geworden, wozu seine Familientradition und sein Studium ihn vorbereitet hatten, nämlich Professor der Systematischen Theologie. Zu dem Zeitpunkt, an dem er aktiv wird, haben andere Gegebenheiten, insbesondere die Gründung des deutschen Reiches, die neuen Beziehungen zwischen den Kirchen und den politischen Gewalten, Folgen des Kulturkampfes, vor allem aber die entscheidenden Fortschritte des Historismus und der biblischen Exegese, ihn nur davon abhalten können. Wenn er auch sicher ein sehr evangelischer und pastoraler Mensch war und als solcher seiner Verantwortung innerhalb der lutherischen Gemeinschaft, der er sich verbunden fühlte und in der er eine wichtige Rolle zu spielen hatte, bewußt, war er vor allem ein Akademiker, Spezialist der Kirchengeschichte und besonders der Kirchenväter und der ersten Konzilien. Und es waren seine Qualitäten auf diesen Gebieten, die ihm seinen guten Ruf in der Öffentlichkeit einbrachten und zu einem vielgefragten Mann werden ließen.

Harnack hat sich also immer geweigert, als "Theologe" angesehen zu werden. Diese Wahl war Ausdruck seiner Sorge, das, was in den biblischen Schriften unvermeidlich von den historischen Umständen bestimmt ist ­ die sich mit der Zeit verändern und kontingent sind ­, nicht mit dem zu verwechseln, was den Glauben im Wesen ausmacht. Und seiner Meinung nach gibt es keine Theologie, die nicht ihre willkürliche Autorität auf der Kontingenz aufbaute.

Von seinen ersten Vorlesungen an, in Leipzig und dann in Berlin, geißelt er die Kirchen, die im Namen der Theologie und der Dogmen eine Autorität über die verschiedenen Gebiete der Weltlichkeit beanspruchen, in erster Linie die katholische Kirche, aber auch alle protestantischen Kirchen, die der Reformation untreu geworden sind. Denn wenn sie es auch oft vermocht haben, eine innere Frömmigkeit zu entwickeln, haben sie nicht immer der Versuchung widerstanden, sie in das Verlangen nach einer Autorität über die Welt umzuformen. Diese Vorlesungen waren die Basis von zwei Büchern, die ein großes Echo in und außerhalb Deutschlands fanden, die "Dogmengeschichte" und das "Wesen des Christentums", und die auf Grund der Debatten, die sie eröffneten, als ein Ferment für zahlreiche Forschungen angesehen werden können: sowohl für die von Ernst Troeltsch und Max Weber zum Beispiel oder später die von Karl Barth bei den Protestanten als auch für die von Alfred Loisy, der bekanntlich die durch die Fortschritte der biblischen Exegese ermöglichte Debatte innerhalb der katholischen Kirche eröffnete, was diese nicht ertrug. Man kennt die Verurteilung des Modernismus und von Alfred Loisy durch Pius X., eine Verurteilung, gegen die Harnack sich heftig aufgelehnt hat (siehe "Die päpstliche Enzyklika von 1907 nebst zwei Nachworten". Band I, 417-430).

Während seines langen Wirkens als Universitätsprofessor hat v. Harnack versucht, im Rückgriff auf die Beiträge der Philologie und der Geschichtswissenschaften die Dimension der Kontingenz und Abhängigkeit des Alten Testaments, der Person Jesu, der apostolischen Schriften und der Schriften der Kirchenväter von den geschichtlichen Umständen aufzuzeigen, um so gut wie nur möglich herauszustellen, was für die Evangelien spezifisch, was dem Christentum grundsätzlich wesenseigen und was nicht von dieser Welt ist.

Man hat oft gesagt, daß die Aussagen v. Harnacks die besten Momente Luthers widerspiegeln. Dieser war für ihn der geniale Übersetzer der Bibel, derjenige, der sich von den Zwängen der Theologie und der Dogmen befreit und den Akteuren der Welt ihre Freiheit und das Gefühl für ihre Verantwortlichkeit zurückgegeben hat (siehe den Vortrag, gehalten anläßlich des 400. Jahrestages der Geburt des Reformators: "Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung", Teil 1, 196-222). Man kann sich allerdings auch die Frage stellen, ob der Polemiker nicht in Gefahr war, in seiner befreienden Begeisterung das Kind mit dem Bade auszuschütten. Hat er nicht die Tatsache unterschätzt, daß Luther die Grundlage der Autorität Roms mit Hilfe einer theologischen Problematik in Frage gestellt hat: Gott ist nicht von dieser Welt? Anders gesagt: War die sehr legitime Frage Harnacks nach der gelegentlichen Untreue der Kirchen ihrer Grundlage gegenüber, die sich nicht nur, wie er dachte, in den Evangelien, sondern in der ganzen Bibel niederschlägt, nicht viel zu kontingent gestellt, ohne jeden reflexiven Abstand gegenüber der Komplexität der Welt, der er angehörte? Hat er nicht Theologie genannt, was eigentlich gar keine war bzw. vielleicht sogar ihr Gegenteil, indem er die Theologie unter dem ausschließlichen Blickwinkel dessen sieht, was sich unter diesen oder jenen besonderen Umständen als solche darstellte, und nicht im Bezug auf eine Problematik, die zur Überlegung und Debatte anleitet und sich über Zwischenstationen artikuliert?

Die meisten kritischen Vorhaltungen, die man v. Harnack machte, betrafen die polemische Dimension seiner Argumentation, die darin enthaltenen übertriebenen Verallgemeinerungen. Die Kritiker haben besser als er das Problem der institutionellen Beziehung zwischen Kirche und Welt formulieren können. V.Harnack hat das immer als einen persönlichen Angriff empfunden, der nicht die Sache betraf. Das war aber nicht unbedingt der Fall. Diejenigen, die die Kritiken, gleich welcher Art, formulierten, bewunderten nicht nur die überwältigende historische Kompetenz v. Harnacks, sondern benutzten sie auch. So haben sie aufzeigen können, daß er sie selber nur teilweise genutzt hat, denn sein polemischer Eifer führte ihn dazu, sie nur in sehr vereinfachter Form anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist sein dauernder Rückgriff auf das Werk von Marcion, ­ Nowak will darin nichts anderes als einen Ausdruck guter Absicht sehen ­ eine offene Frage. Sicher kann man sagen, daß vom Kontext abgesehen und außerhalb jeden Vergleiches, Marcion der erste "Religionsgeschichtler" war. Das ändert aber nichts daran, daß seine übermäßigen Vereinfachungen gegenüber der Komplexität der Welt seiner Zeit unannehmbare Gewaltsamkeiten einschloß. Was v. Harnack betrifft, so zeigte er oft eine gewisse Naivität, was die tragischen Ereignisse seiner Zeit angeht, und er war den Zweideutigkeiten des idealistischen Nationalismus gegenüber, zu dem er sich immer bekannt hat, nicht vorsichtig genug. Er hat ihn auch kaum beeinflussen können.

Wenn er Luther und Bismarck feiert, die für ihn zwei politische Helden der deutschen Nation sind, handelt es sich für ihn natürlich darum, sich auf die Kraft ihrer inneren Frömmigkeit zu konzentrieren und aufzuzeigen, daß sie darauf bedacht waren, gemäß universaler Prinzipien zu handeln. Aber genügt das? Solche Naivitäten finden sich auch in den Stellungnahmen v. Harnacks zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Offensichtlich ist er kein eifernder Bellizist. 1914 spricht er nur von einem Verteidigungskrieg, der mit der einzigen Absicht geführt werden muß, in der Welt die Werte der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, besonders aber eine wahrhafte Frömmigkeit zu verteidigen. Er kann sich nicht vorstellen, daß der Krieg dauern könne. Später sagt er mit Nachdruck, wenn der Sieg Deutschlands natürlich wünschenswert ist, so sind innere Reformen in Deutschland noch wünschenswerter, und er verbringt seine Zeit damit, den verantwortlichen Politikern gute Ratschläge zu erteilen. Hat er aber wirklich die Schwierigkeiten der Welt, in der er lebte, verstanden? Weiß er, an wen er sich mit einiger Aussicht auf Erfolg wenden muß? Der offene Brief, den er 1919 an Clemenceau geschrieben hat, um ihm zu versichern, daß Deutschland guten Willens ist, ist rührend, aber nicht überzeugend.

"Vor der Frage der Ethik", sagt Karl Barth 1921, "fühlen wir uns ratloser, behinderter und unsicherer als die Generation, die ihre Aufgabe 1914 erfüllt hat; wir spüren deutlicher die unausweichliche Ratlosigkeit, die letztliche Ungewißheit, die die Frage der Ethik den Menschen stellt. Und ohne zu verneinen, daß die anderen sie auch gespürt haben, sind wir erstaunt, daß ihr Handeln und ihre Worte so wenig ihre Besorgnisse ausdrücken". Wir wissen, daß v. Harnack die Kritik Karl Barths und dessen Beharren auf der Wichtigkeit der Theologie sehr schlecht ertragen hat. Aber waren sie denn nicht wesentlich für das Feld, auf dem er den Streit austragen wollte?

Vielleicht sind es die Widersprüche zwischen dem eifernden Polemiker und dem Manne der Öffentlichkeit, der im Grunde sehr konformistisch und waffenlos gegenüber den Schwierigkeiten seiner Umwelt war, die die Forscher dazu geführt haben, sich nicht länger für v. Harnack zu interessieren und ihm diejenigen vorzuziehen, die ihn bekämpft haben, trotz ihrer Bewunderung seiner weitreichenden Kompetenz auf dem Gebiete der Geschichtswissenschaften, von der sie profitierten. Rein wissenschaftlich ausgedrückt, kann man das verstehen, wenn nicht rechtfertigen: Das v. Harnack abgesteckte Feld ist von seinen Kritikern genauer beschrieben und ausgeleuchtet worden. Wenn man sich aber für die Geschichte intellektueller Debatten interessiert, für das, was sie an sozialer Dynamik offenbaren, dann erscheint es eher absurd, das Werk v. Harnacks nicht in Betracht zu ziehen. Es ist nicht immer leicht, nicht dem Gesang der Sirenen des Idealismus zu erliegen. Die beiden Bände, die eben erschienen sind, machen diese Arbeit möglich, und das unter den besten Bedingungen. Eine solche Gelegenheit sollte man nicht vorbeigehen lassen.