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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

349–352

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg

Titel/Untertitel:

Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. 476 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 92. geb. DM 178,-. ISBN 3-16-146476-1.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

1. Mit seiner 1994 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt am Main angenommenen Habilitationsschrift legt der jetzt in Hamburg lehrende Jörg Dierken mitnichten primär einen Beitrag zur historischen Theologie vor, sondern inszeniert vielmehr im Medium der Auseinandersetzung mit vier neuprotestantischen Denkern sein eigenes Programm einer religionsphilosophischen "Meta-Theorie von praktisch vollzogener Religion" (442). Dabei geht er so vor, daß auf die vier fast schon monographisch zu nennenden Fallstudien zu K. Barth (16-112), R. Bultmann (113-202), G. W. F. Hegel (203-307) und F. D. E. Schleiermacher (308-416) ein zusammenfassender (417-433) und programmatischer (433-452) Schlußteil folgt. Das Bezugsproblem aller Teilstudien besteht in der Polarität von Glaube und Lehre, die vom Vf. zu derjenigen von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit vergrundsätzlicht wird (1-15). Angesichts der Strittigkeit dieses Verhältnisses jedenfalls im Protestantismus dienen die vier genannten Positionen zur Klärung dieser Grundpolarität (10). Während der religiöse Vollzug durch seine unbestimmte Unmittelbarkeit charakterisiert ist, die aber zur Selbstverständigung auf eine indirekte Explikation durch die Lehre angewiesen bleibt, hat es die Lehre selber mit der durch Reflexion vollzogenen begrifflichen Bestimmtheit zu tun, die im Gottesgedanken als der Letztbegründungsinstanz terminiert (12f.). Insgesamt will der Vf. die Einsicht in die "Unreduzierbarkeit der Differenz zwischen religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit, welche allein aus beider Verhältnis erhellt" (432), plausibel machen.

Näherhin ist die Gesamtarchitektonik der Arbeit sehr komplex gestaltet. Auf einer nicht näher explizierten Makroebene (außer 432 f. A.6) exponiert der Vf. mit der von ihm gewählten Abfolge der Studien die These, daß angesichts offensichtlicher Defizite der "dialektischen" Theologen auf die Väter des "Neuprotestantismus", Hegel und Schleiermacher, zurückgegangen werden müsse.

Dabei läßt er auf den "Bestimmtheitstheoretiker" (Barth, Hegel) den jeweiligen "Vollzugstheoretiker" (Bultmann, Schleiermacher) folgen (14f.). Unterhalb dieser Anlage ­ auf der Mikroebene ­ werden die vier Positionen jeweils mittels der Leittermini "Religion", "Theologie", "Christologie" und "Pneumatologie" in unterschiedlicher Kombination durchbuchstabiert. (23 A.17) Daraus resultieren allerdings auch gewisse Systematisierungszwänge, wenn etwa unter "Religion" Barths offenbarungstheologisch geleitetes Glaubensverständnis (37-49), Bultmanns eschatologisch bestimmte Existenz (193-202) und sogar Hegels "Wissenschaft der Logik" (229-243) subsumiert werden. Insofern erfüllt die gewählte Untergliederung allenfalls partiell ihre Funktion, die Vergleichbarkeit des jeweils behandelten Stoffs zu garantieren.

2. Der rote Faden aller Teilstudien kann mit dem wiederholt aufgenommenen Satz des Philosophen Spinoza angegeben werden: "omnis determinatio est negatio" (204, 365, 419). Denn sowohl theologische Bestimmtheit als auch religiöser Vollzug bedürfen der Differenzen (Negationen), soll denn überhaupt etwas unterschieden und ausgesagt werden können. Der Vf. weist scharfsinnig nach, daß alle Positionen an der Grundaporie laborieren, von Reflexionsbestimmungen Gebrauch machen zu müssen, ohne sie doch zulassen zu wollen ­ außer derjenigen Hegels! Insofern wächst dem Abschnitt über Hegel eine konstitutive Funktion für die Gesamtargumentation zu, die sich aus der Gliederung nicht ablesen läßt (cf 3).

Die "dialektischen" Theologen verfolgen die Strategie, Gott als reine Aktuosität, "actus purus", zu konzipieren und daher alle Bestimmtheit von ihm fernzuhalten. Mit den Termini D. Korschs und F. Wagners wird das Gottesverständnis Karl Barths als Theorie des "singulären, prinzipiellen Faktums" (44) interpretiert. "Absolute Positivität als Sich Gegebensein von Selbsttätigkeit ist das Zentrum des Barthschen Gottesgedankens" (67). Diese reine Aktuosität Gottes wird durch die Trinitätslehre illustriert und durch die faktizitäre Offenbarung dem Menschen erschlossen (45).

In Barths Rezeption der kirchlichen Lehre liegt der Akzent auf der Dieselbigkeit des aktuosen Wesens Gottes, woraus die faktische Quaternität mit binnentrinitarischem Subordinatianismus resultiert (55 f.). Auf diese Weise wird versucht, jede Gefahr durch ein Anderssein für die "substantiale Selbstidentität" Gottes auszuschließen (56). Dieser Gott Barths läßt dann freilich jegliches Anderssein "in seiner reinen Leere hinter sich" (62). An der Prädestinations-, Sünden- und Versöhnungslehre kann der Vf. zeigen (72-91), daß Barth stets auf eine andere (menschliche) Instanz rekurrieren muß, "um zu irgendwelcher Bestimmtheit Gottes überhaupt gelangen zu können" (64). Zwar versucht Rudolf Bultmann im Unterschied zu Barth die Verstehbarkeit der faktizitären Offenbarung (des reinen "Daß" von Jesu Gekommensein, 155 ff.) an die Selbstauslegung menschlicher Subjektivität (in Sünde und Glaube, 171 ff.) zurückzubinden. Dem rein aktuos gedachten Gott wächst aber alle Bestimmtheit wiederum nur durch die menschliche Reflexion zu (199 ff.), so daß sich Bultmanns Theologie als eine "durchgängige Reflexionstheorie von Religion" darstellt (423). Entsprechend bleibt der Ungedanke eines "unmittelbar selbstbezüglichen Subjekts" (418) durch die ausgeschlossene Reflexion negativ bestimmt. "Alles Leben des faktizitären Gottes Barths basiert daher auf der exkludierenden Reflexionstätigkeit des Dogmatikers" (420). So zieht der Vf. für Barth und Bultmann das wohlbegründete, wenn auch vielleicht überraschende Fazit, daß das rein aktuose Gottesbild, aus dem alle Differenzen getilgt sein sollen, auf eine "negative Theologie" hinausläuft; von Gott kann nur gesagt werden, was er nicht ist (99, 104, 112, 116, 153).

An dieser Stelle läßt sich die Position Friedrich Schleiermachers anschließen, da sie eine vergleichbare Aporie enthält. Indem der Gottesgedanke als reine, absolute Einheit gefaßt ist, aus der alle Reflexion getilgt werden muß, erweist sich auch dieses Absolute als "nicht absolut" (431), wenn denn die Reflexion gleichsam als Gegeninstanz zum reinen Absoluten fungiert (318 f., 338 f., 374, 415 f., 429 ff.). Damit soll aber nicht Schleiermachers philosophisch-theologische Theorie des "subjektiven Subjekt-Objekts" (317, 428) mit dem Ziel der "Grundlegung der Letztgeltung des Selbstvollzugs endlicher Subjektivität" (428) diskreditiert werden. Der Vf. stellt vielmehr die Leistungsfähigkeit dieser Theologie im Durchgang durch die "Dialektik" (322-348),philosophische "Ethik" (348-357) und "Glaubenslehre" (357 ff.) heraus. "So baut die Dialektik das Fundament für den Theoriekosmos, indem sie in Gestalt einer Antinomik ein Denken und Sein in Indifferenz vereinendes Absolutes thematisiert... Und die Ethik... prägt ihre Grundbegriffe durch eine reflexionsgeleitete Beziehung des Gegensatzpaares Vernunft und Natur" (429). Die Glaubenslehre schließlich hebt auf die gelebte, christliche Frömmigkeit ab, als deren Funktion die traditionellen Lehrbestimmungen entfaltet werden (388 ff.). Insgesamt erblickt der Vf. die Leistung in der explizit "praktische(n) Orientierung aller Theorie", die Schleiermacher durch seine Kombination "zwischen einer Meta-Theorie von Religion... und einer Dogmatik, die funktional im Dienst der Selbstverständigung praktisch gelebter Frömmigkeit steht," erreicht habe. (432) Kritik erfährt er aber in seinem Versuch, alle spekulative Metaphysik (vgl. Hegel) aus der Theologie auszuscheiden, der durch die exklusive Zuordnung der Religion zum Gefühl artikuliert wird (314 f.). Denn dies verführt eben zur Annahme des Absoluten als rein indifferenter, reflexionsloser Einheit, die zwar in ihrem Für-Bezug für die menschlich-endliche Subjektivität, nicht aber an ihr selbst expliziert werden kann (319. 430 ff.).

3. Spätestens jetzt dürfte die konstitutive Rolle von Hegels Theorie des Absoluten für den Gang der ganzen Arbeit evident geworden sein. Der Einspruch gegen Barth, Bultmann und auch Schleiermacher läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß Hegel die Einsicht "in die Notwendigkeit einer reduktiven, subjektivitätstheoretisch geleiteten Vorgehensweise" (vgl. Bultmann, Schleiermacher) mit derjenigen "in die Unverzichtbarkeit einer produktiv verfahrenden Theo-logie" verbindet (424). Damit sind aber die Denk- als Reflexionsbestimmungen auch für den Gottesgedanken fruchtbar zu machen! "Mit jeder Bestimmung des Gottesgedankens tritt deshalb diejenige Differenz in ihm selbst auf, an die alle bestimmende Tätigkeit des Denkens gebunden ist... Nur wenn dieser "Sache" die Bestimmungsdifferenz selbst zu eigen ist, vermag sie in ihrer Bestimmtheit selbst zu sein" (204). Auf diese Weise wird Spinozas "omnis determinatio negatio" für den Gottesgedanken expliziert. Angesichts des in sich differenzierten Gottesgedankens spricht der Vf. daher bei Hegels Geistmetaphysik von einem "Duo-Monismus", einer internen Doppelstruktur in der Theorie des Absoluten, die auf die wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch abhebt (206 f., 209 f., 232, 248 f., 254, 295 ff.). Demnach korrespondiert in Hegels Religionsphilosophie insgesamt der Erhebung der endlichen Subjektivität zu Gott (dem Gottesbewußtsein) das Kommen Gottes zum Menschen in präziser Umkehr des religiösen Erhebungsvollzugs (der Gottesgedanke). Denn allein wenn "Gott nicht als suisuffizientes, einfaches, höchstes Wesen gedacht wird, sondern die alles Bestimmen implizierende Differenz solche Einfachheit sprengt, ist Gottes Selbstüberschreitung zum Menschen verständlich" (425).

Der Vf. verfolgt zunächst die Herausbildung dieses Programms an den "theologischen Jugendschriften" Hegels (nach H. Nohl) (214-229), um anschließend die "Wissenschaft der Logik" des reifen Hegel als das kategoriale Fundament aller Realphilosophien zu skizzieren (233-242). Dabei wird man den knappen Durchgang auf nur neun Druckseiten bedauern müssen, da sich die berühmt-berüchtigten "Übergänge" im logisch-kategorialen Kontinuum keineswegs unproblematisch ausnehmen. Insbesondere hätte die für den Gottesgedanken unentbehrliche, von Hegel aber verschieden dargestellte Aufhebung des absoluten Substantialitätsverhältnisses (der Wesenslogik) in die Subjektivität der Begriffslogik einer eingehenderen Erörterung bedurft. Denn nur unter der Bedingung einer gelungenen Entfaltung der logischen Subjektivität und "Idee" (als der Einheit von Subjektivität und Objektivität) kann der überwiegend affirmative Umgang des Vf.s mit der Religionsphilosophie (Trinitätslehre, Christologie und Pneumatologie) einleuchten (245ff.). Aber auch wenn man auf den erneuten Vorschlag, Hegel zum "Thomas von Aquin des Neuprotestantismus" (Barth) zu küren, eher gedämpft reagieren mag, wird man dieses an vielen treffenden Beobachtungen reiche Buch, das erfreulicherweise die Anstrengung des Begriffs wirklich nicht scheut, in jedem Fall mit Gewinn studieren.