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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

329–331

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kieschke, Hans G.

Titel/Untertitel:

Rekonstruktion des Evangeliums nach St. Johannes. Ein Versuch zur Lösung des johannëischen Problems.

Verlag:

Frankfurt/M.: R. G. Fischer 1995. 261 S. 4°. DM 48,­. ISBN 3-89501-238-6.

Rezensent:

Klaus-M. Bull

Dem Rez. sei vorab die Bemerkung gestattet, daß ihn die Lektüre des hier anzuzeigenden Werkes etwas ratlos gemacht hat. Wie soll man mit einer exegetischen Untersuchung umgehen, die sich selbst als "Planspiel" (27) begreift? Wie soll man die Ergebnisse der vorgelegten Analysen bewerten, wenn schon in der Einführung bemerkt wird, daß "immer noch brauchbare und vor allem sichere Kriterien für eine exakte Quellenscheidung im vierten Evangelium fehlen" (28), die Ergebnisse also "rein hypothetisch" (ebd.) seien, der Vf. dann aber rein quellenkritisch arbeitet? Und endlich: Wie soll man damit umgehen, daß ein Autor am Ende jedweden Dialog über die von ihm vorgelegten Thesen verweigert (177, Anm. 3)?

Der Vf. legt mit seinem Werk offenbar das Ergebnis langjähriger Überlegungen und Analysen zum Johannesevangelium vor. Er geht von der Beobachtung aus, daß die theologischen und stilistischen Unterschiede zwischen einzelnen Abschnitten des Evangeliums zu groß sind, als daß von einem Verfasser für das Gesamtevangelium ausgegangen werden könnte (10). Dieses "johannëische Problem" will er einer Lösung zuführen.

Eine Reihe von (als Fragen formulierten) Ausgangshypothesen eröffnet den Lösungsvorschlag des Vf.s. Die (relative) stilistische Einheit des Evangeliums erklärt sich aus dem Wirken eines Schülerkreises, der Theologie und Stil des "Urevangelisten" (14) übernahm. Am Anfang der Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums steht eine "vollständige und ganz abgeschlossene Grundschrift" (ebd.), die vermutlich älter als die Synoptiker ist. Die typischen Wiederholungen im Johannesevangelium sind keine stilistische Eigenart, sondern "spätere Neuformulierungen..., die, ohne die ursprüngliche Fassung zu verdrängen, dieser nur jeweils an die Seite gestellt wurden". Schließlich deuten "die Tiefe der theologischen Gedanken und das Fehlen aller Anzeichen, aus denen auf die Verwendung festgeprägter mündlicher Traditionsstücke geschlossen werden könnte" darauf hin, "daß dieses Evangelium... als wissenschaftliche ’Schreibtischarbeit’ entstanden sein könnte" (15).

Die Grundschrift ist vermutlich von einem Augenzeugen verfaßt worden, dem Lieblingsjünger, den der Vf. mit dem Zebedaiden Johannes identifiziert. Dessen Werk "wäre allen ein heiliges Vermächtnis gewesen, fast so heilig, als wenn es der Herr selbst geschrieben hätte, so daß es unbedingt unverfälscht und ungeschmälert weitergegeben werden mußte" (19). Spätere Ergänzer und Kommentatoren haben ihre Anmerkungen und Kommentare demzufolge nicht etwa eingefügt, sondern als eigene Kolumnen hinzugefügt. Das so entstandene Werk stellt sich der Vf. wie die Druckfassungen des babylonischen Talmuds vor, dessen erste Seite er als Faksimile zur Anschauung beifügt. Die handschriftliche Kopie eines solchen Werkes wäre nun aber sehr teuer gewesen, da dafür ein Fachmann benötigt würde. Deshalb hat sich die Gemeinde entschlossen, die Randkommentare und Anmerkungen in den Text einschieben zu lassen. Der damit betraute "Endredaktor" (21, Anm. 3) stand vor einer sehr komplizierten Aufgabe, da bereits alle Teile des Werkes als heilige Schrift galten. Da er den Wortlaut nicht ändern durfte, blieben notgedrungen die eingangs bemerkten Anstöße stehen. Der Vf. betont aber mehrfach, daß der so entstandene Text sinnvoll sei, der Endredaktor also kein "Wirrkopf" oder "geistig etwas beschränkt" war (vgl. 22, 91 u. ö.).

Die nun folgenden Analysen der Textabschnitte Joh 1,1-28; 11,1-44; 4,5-45; 3,1-4,4 und 1,32-2,25 sollen die Möglichkeit der eben referierten Hypothese aufzeigen. Am Ende jeder Analyse bietet der Vf. den griechischen und deutschen Text seiner Rekonstruktion. Sie besteht aus jeweils vier Kolumnen: 1. der Grundschrift, die (2.) mit einem theologischen Kommentar und (3.) Randbemerkungen versehen wurde; der Kommentar erhielt dann seinerseits wieder (4.) Randbemerkungen. Die Grundschrift trägt synoptische Züge und ist sehr alt. Auch die Randbemerkungen zur Grundschrift, die häufig geographische und personelle Details nachtragen, bewahren häufig gute alte Tradition. Der Kommentar hingegen trägt bereits deutlich hellenistische Züge, die auf spätere theologische Entwicklungen weisen. Die Randbemerkungen zum Kommentar sind endlich die jüngste Schicht des Evangeliums.

Versucht man, die Zuordnung der Abschnitte zu den einzelnen Quellenschichten nachzuvollziehen, wird sofort die (vom Vf. auch immer wieder betonte) Unsicherheit der Begründung von solchen Zuordnungen offenkundig. Am ehesten werden noch die Kriterien für die Zuordnung zur Grundschrift deutlich. Ihr spricht der Vf. alles ab, was seiner Meinung nach für den historischen Jesus nicht denkbar ist (Beispiel: "’Nun ist es aber geschichtlich undenkbar, daß Jesus zu Nikodemus von der christlichen Taufe geredet haben sollte.’ Kann daher der Vers 5 [= Joh 3,5] zum ursprünglichen Gespräch Jesu mit Nikodemus gehört haben?" [118]). Die Zuordnung zu den anderen Quellenschichten erfolgt häufig allein aufgrund der postulierten Brüche und Doppelungen. Wie unsicher die Ergebnisse im einzelnen sind, zeigt sich spätestens dann, wenn der Vf. in späteren Passagen seines Werkes Zuordnungen zu den Quellenschichten ändert, ohne wirklich nachvollziehbare neue Argumente beizubringen (so ordnet er zunächst das Weinwunder zu Kana der Grundschrift zu, die Tempelaustreibung aber dem Kommentar [149], um dieses Urteil sogleich wieder zu revidieren [162]).

An die quellenkritischen Analysen schließt sich eine paläographische Rekonstruktion von Joh 1,1-4,45 an, die in Majuskeln vier gleichbreite Kolumnen Text bietet. Bevor der Vf. sein Werk mit einer "vollständigen Rekonstruktion" der von ihm erschlossenen Quellenschichten abschließt, benennt er in einem "Die Weiterarbeit" überschriebenen Abschnitt einige dabei getroffene Zuordnungen. So ist 6,29 ff. der Kommentar zu 6,1-28, 15-17 der zu 13,13-14,31 und 21 der zu 20 (jeweils mit Randbemerkungen). Außerdem vermutet der Vf., daß die Grundschrift ursprünglich mit 19,35 endete (167), aber vom Lieblingsjünger bald nach dem Ende der Ostererscheinungen erweitert wurde (172). Schließlich hät er 7,53-8,11 ebenfalls für einen ehemaligen Teil der Grundschrift, der 8,15 illustrieren sollte (175), dann aber von der "offiziellen" Kirche ausgeschieden wurde (ebd.). Ähnlich urteilt er im Fall von 5,3b-4. Diese Passage sei aufgrund ihres primitiven Wunderglaubens ausgeschieden worden (176).

Man wird dem Vf. noch zugestehen können, daß eine Aufteilung des Johannesevangeliums in vier Kolumnen mit den von ihm gewählten Methoden möglich ist, wahrscheinlich ist sie nicht. Die rekonstruierten Quellenschichten hängen theologiegeschichtlich (von einigen knappen Bemerkungen abgesehen) völlig in der Luft. Sozialgeschichtliche Überlegungen fehlen gleich ganz. Ein Blick in das Literaturverzeichnis zeigt, daß der Vf. die gesamte Diskussion der letzten 20 Jahre vollkommen ignoriert, aber auch von der älteren exegetischen Literatur zum Johannesevangelium fehlt vieles. Letztlich hat der Vf. eine Untersuchung vorgelegt, die kaum zur Lösung der exegetischen Probleme des Johannesevangeliums beiträgt.