Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/1999

Spalte:

288 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ulland, Harald

Titel/Untertitel:

Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der Apokalypse des Johannes. Das Verhältnis der sieben Sendschreiben zu Apokalypse 12-13.

Verlag:

Tübingen: Francke 1997. IX, 369 S. gr.8 =Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 21. Kart. DM 96,-. ISBN 3-7720-1872-6.

Rezensent:

Daria Pezzoli-Olgiati

Angesichts der mehrfachen Gefährdung unserer Welt werden heute "Apokalypse", "apokalyptisch" und ähnliche Begriffe gern zur Beschreibung unserer Zeit als einer Epoche der Krise verwendet, und in zweifacher Hinsicht: als Beschreibung einer radikalen Veränderung oder als Ende des Lebens. Obwohl die Bedingungen zur Zeit der Entstehung der Johannesapokalypse radikal anders als die heutigen waren, wurden sie auch - zumindest nach der Auffassung des Johannes - als Situation der Krise gedeutet. Diese Parallele bildet den Ausgangspunkt für die anregende Auseinandersetzung mit dem letzten Buch der Bibel, die U. als Disseration 1997 veröffentlicht hat.

Den Leitfaden der Studie bildet die Frage nach der rhetorischen Funktion der Visionen der Apokalypse. Der Vf. analysiert die Briefe in Apk 2-3 sorgfältig und rekonstruiert aufgrund dieser Texte die Situation der Adressaten der Johannesoffenbarung differenziert: Einerseits erläutert er die Bezüge auf die konkreten Gemeinden in den sieben Städten in Kleinasien mit ihren gesellschaftlichen und geographischen Eigentümlichkeiten, andererseits hebt er die allgemeinen, offenen, zeitlosen Formulierungen hervor, welche die Rezeption dieser Briefe auch für andere, nicht direkt angesprochene Christen ermöglichen. Auf diesen offenen Formulierungen baut Johannes den weiteren Visionenteil (Apk 4-22) auf, indem er sie wieder aufnimmt und in seinem Sinne interpretiert. Dadurch wird ein wesentlicher Zug der Apokalypse nach U.s Auslegung ersichtlich, nämlich das Koexistieren verschiedener Interpretationen der Gegenwart: die radikale Deutung des Sehers, der eine "orthodoxe" Sicht des Christentums als einzig mögliche vertritt, und die verschiedenen der Adressaten, welche die Integration in den römischen Staat mit ihren christlichen Bekenntnis vereinbaren. Die ausführliche Untersuchung der zentralen Visionen in Apk 12-13 führt zur Formulierung der Hauptthese der Studie. Die Wirklichkeit der Adressaten wird in den Visionen der Apokalypse radikalisiert, und zwar zweifach: Die Probleme und Konflikte in der Gegenwart werden einerseits auf den kosmischen Kampf zwischen dem bewahrenden Gott und dem drohenden Satan zurückgeführt. Und gegenüber dieser dichotomischen Sichtweise des Kosmos kommt nur eine radikale Haltung des Christen in der Geschichte in Frage.

Dieser zweite Aspekt der Radikalisierung der Wirklichkeit konkretisiert sich im Leben der Adressaten in der unausweichlichen Wahl zwischen der Angst vor dem zeitlichen Tod um des Zeugnisses willen (Martyrium) und der Angst vor der eschatologischen Verurteilung zum Feuerpfuhl (Gericht). In einem abschließenden Kapitel werden wichtige Aspekte der Theologie der Apokalypse, insbesondere ihrer Soteriologie, auch im Lichte der heutigen Situation dargelegt.

Wie die rekonstruierte Sicht des Johannes, so erscheint auch die Interpretation, die U. vorschlägt, kompromißlos: Die Apokalypse ist nach diesem Versuch kein Buch des Trostes und die von Johannes vertretene Orthodoxie und -praxie fast eine direkte Aufforderung zum Martyrium, welche an den einzelnen Christen und nicht an die Gemeinde gerichtet ist. Obwohl diese Thesen an manchen Stellen als zu pointiert formuliert erscheinen mögen, bezeugen sie einen kohärenten Zugang zu den komplexen Bildern der Apokalypse. Der Verfasser greift auch traditionell ungeklärte Fragen auf und vertieft sie auf selbständige und originelle Weise. Dabei erweist sich der ausgesprochen exegetische Zuschnitt der Untersuchung als wertvoll - er läßt neue Aspekte der Visionen entdecken - und vorteilhaft- er liefert einleuchtende Argumente vor allem bei umstrittenen und langwierigen Diskussionspunkten wie beispielsweise die Auslegung der Rätselzahl 666. U.s methodischer Vorgang unterstreicht die Relevanz der zentralen Fragestellung und bekräftigt sie. Zudem erfolgt die Rekonstruktion der historischen Entstehungssituation und deren Beziehung zu den Visionen stets mit besonderer Rücksicht auf die literarische Eigenschaft der Apokalypse. Ihre symbolischen Bilder werden ernst genommen und nie zu bloßer Chiffrierung einer bestimmten geschichtlichen Situation reduziert. Im Gegenteil: Die literarische Fiktion mit ihren offenen Symbolen verankert im Text selbst die Möglichkeit verschiedener Interpretationen, die auf unterschiedliche historische Situationen zugeschnitten werden können.

Einen der wichtigsten Mechanismen dieser Offenheit der Visionen sieht U. in der verstrickten, chaotisch wirkenden Verwendung der Zeitformen, welche den symbolischen Bildern den Charakter der Zeitlosigkeit verleiht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden auf eine derartige Weise vermischt und inszeniert, die die Leser verunsichert. Hauptfrage ist demnach nicht mehr die nach dem Wann des Eingreifens der himmlischen Welt in die irdische, sondern die Zusicherung, daß sie "jederzeit in die irdischen Abläufe eingreifen kann und bereits eingegriffen hat".

Diese Beobachtungen vermitteln einen interessanten hermeneutischen Ansatz zur Verwendung der Bilder der Apokalypse auch in anderen historischen Kontexten. U. versucht es in bezug auf unserer Zeit, ohne jedoch die Grundunterschiede zwischen dem ausgehenden ersten Jahrhundert und zweiten Millennium zu verwischen.